„Ich denke, ich gehe an die Uni und werde studieren, aber um ehrlich zu sein, bin ich genau in der gleichen Situation wie du.“ Insgeheim freute ich mich ein wenig, dass es Henry nicht anders als mir ging.
Um das Thema zu wechseln, wann ich mich an Margret und James. „Wie seid ihr eigentlich damals darauf gekommen, die Farm hier aufzubauen?“
„Oh, das ist schon lange her und an die Einzelheiten erinnere ich mich auch nicht mehr so genau“, setzte Margret an. „Ich glaube, es war damals einfach die Lust und die Gelegenheit etwas Neues aufzubauen. Das Haus hier war ziemlich heruntergekommen und wir mussten viel Arbeit reinstecken und auch um die Felder hat sich lange niemand richtig gekümmert, aber je mehr wir investiert hatten, desto mehr haben wir daran geglaubt, dass wir es schaffen können.“ James nickte zustimmend. „Am Anfang war es wirklich ein wenig schwierig, aber heute laufen die Geschäfte ganz gut“, fügte er hinzu. „Natürlich gab es auch mal schwierige Zeiten, aber man sollte nicht aufgeben, wenn man einen Traum hat.“ James schaute Henry und mich eindringlich an. Was wollte er uns sagen? Natürlich, man sollte an seine Träume glauben, aber ich hatte momentan einfach keinen. Mein Traum war es, herauszufinden, was ich aus meinem Leben machen wollte.
„Wann fangen wir eigentlich immer an?“, fragte ich gegen Ende, als alle volle Bäuche hatten. „Um acht“, sagte Margret. „Morgen hast du allerdings noch einen Tag Schonfrist. Das dauert ja immer ein paar Tage mit dem Jetlag.“
„Okay“, sagte ich dankbar. „Was steht dann immer so an?“
„Das erkläre ich dir dann morgen früh bei der Runde“, antwortete sie.
„Sprichst du eigentlich oft mit deiner Familie?“, fragte ich Henry später, als wir gemeinsam zu unseren Zimmern gingen.
„Es geht. Hat nichts damit zu tun, dass ich sie nicht mag, aber immer, wenn ich mit ihnen gesprochen habe, fällt mir auf, wie sehr ich sie vermisse“, gestand er. Ich wunderte mich ein wenig über diese Ehrlichkeit, denn aus meiner Erfahrung setzten Jungs alles daran, um möglichst cool und hart zu wirken.
„Wie sieht es bei dir aus?“, fragte er zurück.
„Ich habe bislang nicht sehr oft mit meinen Eltern gesprochen“, sagte ich. Irgendwie war alles in letzter Zeit ein wenig stressig, dass ich nicht dran denke, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass meine Mutter vor Sorge zu Hause die Wände hochgeht.“ Henry lächelte. „Ich habe mit meinen Eltern ausgemacht, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, wenn ich mich mal nicht melde, aber trotzdem freuen sie sich immer drüber, wenn ich dann anrufe. Und dann kommt ja noch die Zeitverschiebung dazu. Von hier aus gesehen ist es 19 Stunden später.“
„Wooooooow“, entglitt es mir. Henry lachte.
„Na gut, ich hau mich dann mal hin. Gute Nacht. Bis morgen.“
„Bis morgen“, sagte ich und ging zum Zimmer nebenan.
Obwohl ich mir einen Wecker gestellt hatte, um nicht zu verschlafen, wachte ich – und wieder war der Jetlag schuld – sehr viel früher auf. Ich ging leise ins Bad, um Henry nicht zu wecken, falls er noch schlafen sollte, dann versuchte ich so leise wie möglich die Treppe hinunterzugehen, was mir nicht ganz so gelang.
„Du bist aber schon früh auf“, begrüßte Margret mich, kaum war ich unten angekommen.
„Ich konnte nicht mehr schlafen“, gestand ich. „Aber warum bist du schon aufgestanden?“, fragte ich zurück.
„Eine Sache der Gewohnheit“, schmunzelte sie. „Oder vielleicht gerade, weil ich gelernt habe, dass es manchmal besser ist, schneller als meine Schwester zu sein.“
Das brachte auch mich zum Schmunzeln. „Magst du Kaffee?“
„Oh, ja, bitte“, sagte ich dankbar. Margret holte eine Tasse und goss mir von dem schwarzen, gut duftenden Gebräu ein.
„Was machen wir heute Morgen?“, fragte ich, nachdem ich so langsam wach wurde.
„Ich denke, ich werde dir zunächst mal den Hof zeigen, da sind wir ja gestern gar nicht mehr zu gekommen, dann zeige ich dir so ein bisschen, wo alles steht, damit du dich zurechtfindest. Aber keine Angst, ich hatte bisher noch niemanden, der sich das alles an einem Tag merken konnte, aber das wirst du schnell lernen. Dann werden wir auch gleich mal schauen, was es heute zu tun gibt. Henry ist momentan immer draußen auf den Feldern unterwegs und wenig am Hof, aber ich brauche auch jemanden hier.“ Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich ihr zugehört und verstanden hatte.
„Trink noch in Ruhe deinen Kaffee aus und dann können wir loslegen.“
Etwa zehn Minuten später folgte ich Margret wie ein treuer Hund über das Anwesen. Hinter dem Haus lagen eine Scheune und ein kleiner Stall, die ich gestern gar nicht bemerkt hatte. Als Margret die Tür zum Stall öffnete, wurden wir schon von einem lauten Iaaaah begrüßt. „Das ist Gru“, stellte sie mir das Tier vor. „Und wie du nicht schwer erkennen kannst, ist er ein Esel.“ Ich musste lachen. Ich kannte niemanden, der einen Esel zum Haustier hatte. „Und das sind unsere Ziegen: Missy, Roxy und Mister“, fuhr sie fort. Ich fand es hier immer cooler: ein Esel UND Ziegen. „Ohhh, sind die süß!“, sagte ich ekstatisch und Margret konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wir werden bald wohl noch ein paar mehr haben. Roxy ist trächtig.“ Ich schaute ein wenig verzückt auf Roxys Bauch.
Ich folgte Margret in eine kleine Kammer, wo das Futter für die Tiere aufbewahrt wurde. „Das da ist das Ziegenfutter“, sie deutete auf ein paar Dosen auf einem Regal, „und das da ist für Gru“ und deutete auf eine einzige große Dose rechts daneben. „Er bekommt eine Kelle voll Pellets am Tag. Und noch dazu ein wenig Heu“, erklärte sie mir. „Außerdem musst du die Ställe jeden Tag saubermachen. Tagsüber kommen die Tiere auf die Weide, da hast du hier dann Platz. Jetzt können sie erst einmal frühstücken und dann lassen wir sie raus.“
Ich folgte Margret weiter. „Hier sind unsere Hühner“, sagte sie und deutete auf den Verschlag neben dem Stall. „Noch sind sie draußen, aber wenn es wirklich kalt wird, werden wir sie den Winter über in den Stall bringen. Henry wird uns dabei helfen, da was zu bauen. Das ist das erste Jahr, dass wir Hühner halten und müssen selbst noch ein wenig dazulernen. Den Hühnerstall brauchst du aber nur einmal in der Woche sauber zu machen.“ Margret kontrollierte, ob die Hühner noch genügend Futter hatten und füllte den Wassertrog auf.
„So viel zu den Tieren“, sagte sie nach getaner Arbeit. „Ansonsten fallen jeden Tag andere Arbeiten an. Vielleicht wäre es mal nicht schlecht, für heute den alten Schuppen durchzusehen und aufzuräumen.“ Ich nickte zum Zeichen, dass ich sie verstanden hatte. Ich folgte ihr weiter hinter den Stall, wo noch so ein stallartiges Gebäude stand. Das musste wohl der Schuppen sein. Margret trat ein und machte das Licht an. Wie ich bereits befürchtet hatte, hingen überall großen Spinnennetze. Ich mochte Spinnen nicht besonders gerne. Anscheinend hatte sie meinen leicht konsternierten Gesichtsausdruck bemerkt und lachte. „Alles halb so schlimm“, sagte sie. Na ja, irgendwie musste ich ja da durch.
Nachdem ich diesen ersten Schock überwunden hatte, sah ich mich ein wenig genauer um und stellte fest, dass der Schuppen wirklich einer einzigen Rumpelkammer ähnelte, als hätte man über die letzten Jahre einfach alles hineingeworfen, was man nicht mehr oder nur kurzzeitig brauchte.
„Du kannst am besten erst einmal alles ausräumen und dir einen Überblick verschaffen, was alles drin ist“, schlug sie vor. „Weiter hinten sind auch ein paar Regale, die kann man auch noch nutzen. Und James wollte auch noch ein paar zimmern.“
„Okay.“ Eigentlich hatte ich wirklich keine Lust darauf, einen Schuppen aufzuräumen. Irgendwie hatte ich mir das Farmleben anders vorgestellt, aber ich wollte auf keinen Fall undankbar sein.
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