"Sie brennt. Die Felicitas brennt", stieß Rebecca heiser vor Entsetzen hervor. "Die Kinder ... rettet die Kinder!" Sie versuchte, sich aufzurichten.
Robert sprang auf. Er beugte sich über die junge Frau und hielt sie mit beiden Händen fest.
Rebecca kämpfte verzweifelt gegen ihn an. Sie wollte zu den Kindern, sie von Bord holen. Jetzt wurden sie von den Flammen erfasst. Schreiend sprangen sie in Wasser. Da waren Haie ...
Hinter Robert öffnete sich die Tür. Er drehte sich halb um. "Gut, dass Sie hier sind, Doktor Stone", sagte er. "Miss Deville scheint einen Albtraum zu haben." Müde strich er sich seine schwarzen Haare zurück. Während der letzten Nächte war er kaum zum Schlafen gekommen.
"Bitte treten Sie einen Augenblick beiseite, Mister Hale", bat der Arzt. Er beugte sich über Rebecca. Beruhigend sprach er auf die Malerin ein.
Rebecca schlug die Augen auf. Sie blickte die Männer an, nahm jedoch nur Schemen wahr. "Es ist vorbei", sagte sie fast tonlos. "Es ist vorbei. Die Felicitas ist untergegangen. Niemand an Bord hat überlebt. Die Kinder ..." Kraftlos sank ihr Kopf zur Seite.
"Sieht aus, als sollten wir Miss Deville wieder auf die Intensivstation verlegen", meinte Dr. Stone besorgt. "Bei einer so schweren Gehirnerschütterung, wie Ihre Freundin sie hat, kommt es oft zu einem Rückschlag", fügte er hinzu.
Robert ergriff den Arm des Arztes. "Miss Deville wird doch wieder völlig gesund werden?" Er machte erst gar nicht den Versuch, gegen seine Angst anzukämpfen. Seit man Rebecca vor vier Tagen in die Klinik eingeliefert hatte, war nicht ein Augenblick vergangen, in dem er nicht an sie gedacht hätte. Er liebte Rebecca über alles und wünschte sich verzweifelt, sich nicht wegen der Musicalkarten mit ihr gestritten zu haben. Wäre er nur an jenem Abend bei ihr geblieben.
"Wir tun alles, was in unserer Macht steht, Mister Hale", versicherte der Arzt. Er warf einen letzten Blick auf die junge Frau, dann verließ er das Zimmer, um sich mit seinen Kollegen zu beraten.
Niedergeschlagen betrat Robert Hale zwei Stunden später seine Wohnung. Obwohl er lieber bei seiner Freundin geblieben wäre, es war nicht möglich gewesen. Mit dem Trost, dass er am Abend anrufen durfte, hatte man ihn verabschiedet. Sein Blick fiel auf eine Zeichnung, die ihm Rebecca vor vierzehn Tagen zu seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Sie zeigte einen Bernhardiner, der als Wächter vor einem Parktor lag.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob den Hörer ab. "Ach, du bist es, Paul", meinte er, als sich sein bester Freund meldete.
"Ja, nur ich", erwiderte der junge Mann. "Wie geht es Rebecca?", erkundigte er sich. "Du warst sicher in der Klinik?"
"Ich bin eben erst nach Hause gekommen", antwortete Robert. "Es geht ihr nicht sonderlich. Man hat sie wieder auf die Intensivstation verlegt." Er erzählte Paul von den Albträumen seiner Freundin. "Ich begreife das nicht. Ich habe noch niemals gehört, dass man bei einer Gehirnerschütterung unter Albträumen zu leiden hat."
"Jede Gehirnerschütterung ist anders", versuchte ihn Paul zu beruhigen. "In einigen Tagen wird es Rebecca sicher wieder besser gehen. Kopf hoch, alter Junge! Wir kennen Rebecca. So schnell wirft sie nichts um."
"Ich wünschte, ich könnte daran glauben", erwiderte Robert. "Es ist schrecklich, sie so leiden zu sehen und ihr nicht helfen zu können. Ich wünschte, ich könnte die Zeit um ein paar Tage zurückdrehen und diesen dummen Streit ..."
"Hör auf, Robert, mach dich nicht fertig", fiel ihm Paul ins Wort. "Du bist nicht schuld an Rebeccas Unfall. Davon abgesehen täte es euch beiden gut, hin und wieder gegenseitig etwas Toleranz zu üben."
"Ich habe mir geschworen, dass alles besser wird, sobald Rebecca wieder zu Hause ist", versprach Robert. "Ich werde ihr nie wieder vorwerfen, nichts als ihre Karriere im Kopf zu haben. Wenn man etwas erreichen will, ist es nun einmal wichtig, oft bis zur Besessenheit zu arbeiten. Schließlich weiß ich das, aus eigener Erfahrung."
Er wechselte noch ein paar Worte mit seinem Freund, dann legte er auf. Rebecca war nicht sehr oft in seiner Wohnung gewesen, dennoch erschien sie ihm plötzlich öd und leer. Mutlos setzte sich der junge Mann ans Klavier und schlug die ersten Töne einer Melodie an, die er für seine Freundin komponierte. Er wollte sie damit an ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag überraschen.
Während der nächsten drei Tage konnte Robert Hale seine Freundin immer nur für ein paar Minuten am Vormittag und am Nachmittag besuchen, doch dann ging es Rebecca besser und sie wurde wieder auf die allgemeine Station verlegt.
Der Komponist kaufte einen bunten Frühlingsstrauß und fuhr zum Krankenhaus. Am Kiosk in der Halle erstand er noch eine Schachtel ihrer Lieblingspralinen. Als er bezahlte, fiel sein Blick auf die Schlagzeile der Morgenzeitung. Während der letzten Tage hatte er weder Nachrichten gehört, noch Zeitungen gelesen. "Keine Überlebenden beim Untergang der Felicitas." Bestürzt hielt er sich am Tresen fest.
"Was haben Sie?" Die Verkäuferin folgte Roberts Blick. "Ist das nicht schrecklich?", fragte sie. "Ich habe bereits heute Morgen in den Nachrichten von der Schiffskatastrophe gehört. Ein Tanker und ein Kreuzfahrtschiff sind im dichten Nebel vor der Küste Korsikas zusammengestoßen. Dem Tanker ist nicht viel passiert, aber an Bord der Felicitas hat es eine Explosion gegeben und dann ist Feuer ausgebrochen. Unter den Passagieren befanden sich über fünfzig Kinder."
"Bitte, geben Sie mir die Zeitung", bat Robert betroffen. Seine Hand zitterte, als er bezahlte. Hatte Rebecca nicht vor drei Tagen im Delirium von Untergang eines Schiffes gesprochen? Immer wieder hatte sie den Namen des Schiffes gemurmelt. "Die Kinder ...", glaubte er sie klagen zu hören. "Die Kinder ..."
Der junge Komponist suchte sich ein ruhiges Eckchen in der Halle und las den Artikel, der zur Schlagzeile gehörte. Schließlich ließ er sich mit geschlossenen Augen im Sessel zurücksinken. Wie hatte Rebecca wissen können, dass die Felicitas untergehen würde? Zu der Schiffskatastrophe war es erst am vergangenen Abend gekommen. Sie hatte bereits vor drei Tagen davon gesprochen.
Sie kann doch nicht hellsehen, dachte er und richtete sich auf. Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf ein Tischchen. Hoffentlich hatte Rebecca nichts vom Zusammenstoß der beiden Schiffe gehört. Dr. Stone hatte ihn am Telefon darauf hingewiesen, dass jede Aufregung zu einem gefährlichen Rückschlag führen konnte.
Als der Komponist das Krankenzimmer betrat, sah ihm seine Freundin lächelnd entgegen. Zum ersten Mal seit Tagen schien sie wieder völlig bei sich zu sein. Sie streckte die Arme nach ihm aus. "Wie schön, dass du kommst, Robert", sagte sie.
"Willkommen in der Welt." Robert schloss die junge Frau in seine Arme. "Lass dir nicht einfallen, mir noch einmal solche Sorgen zu machen. Glaub mir, während der letzten Tage bin ich durch die Hölle gegangen."
"Das tut mir leid." Rebecca strich ihm zärtlich über die Stirn. "Doktor Stone sagte mir, dass ich immer wieder bewusstlos geworden bin." Stirnrunzelnd fügte sie hinzu: "Dunkel kann ich mich an furchtbare Albträume erinnern."
Oder Visionen, dachte Robert. "Denk nicht mehr daran", meinte er. "Die Hauptsache, dir geht es inzwischen wieder besser. Hat dir Doktor Stone gesagt, wann du aus der Klinik entlassen wirst?"
"Vermutlich Ende der Woche, wenn ich nicht wieder einen Rückschlag erleide", erwiderte Rebecca. Sie bedankte sich für die Blumen und die Pralinen. "Wenn du morgen kommst, könntest du mir eigentlich meinen Skizzenblock und Stifte mitbringen. Ich muss meinen Händen etwas zu tun geben."
"Das sieht dir ähnlich", meinte der junge Mann. "Verlaß dich darauf, Darling, deinen Skizzenblock bekommst du erst, wenn Doktor Stone damit einverstanden ist."
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