"Rebecca, ich habe viel zu tun. Also entschuldige bitte, ich muss an meine Arbeit zurück", unterbrach sie der Komponist und ließ sich nicht anmerken, wie schwer es ihm fiel, diese Worte zu sagen. "Außerdem wirst auch du schon wieder neue Pläne haben."
"Dann will ich dich nicht länger stören, Robert", meinte die junge Frau mutlos. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt. Ohne einen Gruß legte sie auf.
Minutenlang stand Rebecca noch neben dem Telefonapparat, weil sie hoffte, ihr Freund würde zurückrufen. Das Telefon blieb stumm. Niedergeschlagen kehrte sie in ihr Atelier zurück, um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen. Es kam nur selten vor, dass ihr die Arbeit keine Freude machte. An diesem Vormittag war es so. Um sich abzulenken, schaltete sie das Radio ein.
Lustlos summte die Malerin die Musik mit, die gerade ausgestrahlt wurde. Sie fragte sich verzweifelt, was sie tun konnte, um Robert zu versöhnen. Auch wenn sie sich noch so oft einzureden versuchte, es sei besser, unter ihre Beziehung einen dicken Schlussstrich zu ziehen, sie konnte nicht daran glauben. Sie liebte Robert und war überzeugt, dass auch er sie liebte. Nur sein Stolz ließ es nicht zu, sich mit ihr zu versöhnen.
Die Musiksendung wurde von den Nachrichten unterbrochen. Rebecca legte Pinsel und Palette beiseite. Sie wischte sich die Hände an einem Baumwolltuch ab, das stets bereitlag. Sie hatte Angst vor den Nachrichten, weil sie erwartete, von einem Zugunglück zu hören. Am liebsten hätte sie das Radio ausgeschaltet.
Das Bild der einstürzenden Brücke stand noch immer deutlich vor ihren Augen.
Die junge Frau wollte schon erleichtert aufatmen, als der Nachrichtensprecher mit einer Meldung über die Regierungskrise in einem ostafrikanischen Staat schließen wollte. Dann bekam er eine weitere Mitteilung. In Kanada waren am Morgen beim Einsturz einer Eisenbahnbrücke über zweihundert Menschen ums Leben gekommen.
Rebecca schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Ihr wurde schwindlig. Die Musik, die gleich nach den Nachrichten wieder einsetzte, dröhnte in ihren Ohren. Mit einer impulsiven Bewegung fegte sie das kleine Radio von dem Tischchen, auf dem es gestanden hatte. Krachend schlug es auf dem Boden auf. Die Musik erstarb.
Die junge Malerin stieß heftig den Atem aus. Sie bückte sich und hob das Radio auf. Einige Teile waren von ihm abgebrochen. Schuldbewusst legte sie den kaputten Apparat auf den Tisch zurück. Sie glaubte nicht, dass er noch repariert werden konnte. Leise schluchzte sie auf. Ihre Tränen galten nicht dem Radio, sondern den Menschen, die bei dem Zugunglück ums Leben gekommen waren und ihrem Entsetzen darüber, dass es ihr wirklich möglich war, in die Zukunft zu blicken.
Mit einer Tasse Tee zog sich Rebecca eine Weile später ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich in einen Sessel, lehnte sich zurück und schloss die Augen, um in Ruhe über alles nachzudenken.
Bis zu ihrem Unfall hatte sie niemals diesen inneren Zwang gespürt, Dinge zu skizzieren, die sie gar nicht zu Papier bringen wollte. Es musste also mit ihrer schweren Gehirnerschütterung zusammenhängen. Während ihres Deliriums hatte sie furchtbare Dinge gesehen, aber sie konnte sich nach wie nicht daran erinnern, was es gewesen war.
Ich will nicht in die Zukunft sehen können, dachte Rebecca und richtete sich auf. Mit einer müden Bewegung strich sie sich die Haare zurück. Sie überlegte, ob sie einen Psychiater aufsuchen sollte. Vielleicht konnte er ihr helfen. Andererseits scheute sie den Weg zu ihm. Sie wollte nicht mit einem Fremden über ihre Probleme sprechen.
Die junge Frau dachte an ihr Sommerhäuschen in Cornwall. Vielleicht würde es schon nützen, einige Wochen völlig abzuschalten. Sie hatte ja ohnehin vorgehabt, Urlaub zu machen, allerdings hatte sie damals noch von einem Urlaub mit Robert geträumt.
Eine tiefe Sehnsucht nach ihrem Freund ergriff sie. Es kostete sie Mühe, Robert nicht noch einmal anzurufen. Sie hatte ihm nichts von der Skizze des Brückeneinsturzes erzählt. Die Versuchung es jetzt zu tun, war groß. Rebecca widerstand. Sie wollte nicht das Unglück anderer Menschen benutzen, um Robert zurückzugewinnen. Er sollte sich aus freien Stücken entschließen, ihr zu verzeihen und nicht, weil er ihr nur in ihrer Angst beistehen wollte.
Es dämmerte bereits, als Rebecca Deville einige Tage später Clovelly, ein Fischerdorf, erreichte, das malerisch zwischen den Klippen lag. An seinen steilen Straßen standen uralte, kleine Häuser mit bemalten Türen und Balkonen, auf denen Blumen blühten. Ein leichter Geruch nach Tang und Fisch lag in der Luft. Die junge Frau machte hier kurz Station, um noch etwas einzukaufen, dann fuhr sie in Richtung Newquay weiter.
Schon bald tauchte vor Rebecca die Abzweigung zu der kleinen Feriensiedlung auf, in der ihr Haus stand. Die Siedlung lag am Fuß einer steilen Klippe, auf der sich Drago Castle erhob. In der Abenddämmerung wirkte das dunkle Gemäuer noch unheimlicher als am Tag. Unwillkürlich rann ein Frösteln über den Rücken der jungen Frau.
Rebecca hatte kaum vor der Tür ihres Hauses gehalten, als auch schon Mrs. White erschien, eine Dame mittleren Alters, die sich während der Abwesenheit der Besitzer um die Häuser kümmerte, manchmal auch putzte und andere Arbeiten erledigte. Die Malerin hatte ihr am Vortag ihre Ankunft mitgeteilt.
"Es ist alles für Sie bereit, Miss Deville", sagte sie, nachdem sie einander begrüßt hatten. "Ich habe über Ihren Erfolg in London gehört. Darf ich Ihnen gratulieren?" Sie schüttelte die Hand der jungen Frau. "Werden Sie auch hier arbeiten? Die Gegend bietet sich förmlich dazu an."
"In erster Linie werde ich hier Ferien machen, Mistreß White", unterbrach Rebecca den Redeschwall der Wirtschafterin. "Es wird Zeit, dass ich mich etwas ausspanne." Sie blickte nach Drago Castle hinauf. Es überraschte sie, plötzlich Licht in einem der Türme zu sehen. "Ist Lord Forbes zurückgekehrt?", fragte sie. Sie hatte den Besitzer von Drago Castle noch nicht kennengelernt. Er lebte mit seiner kleinen Tochter schon seit Jahren in Frankreich.
Emily White nickte. "Ja, Seine Lordschaft ist vor drei Wochen zurückgekehrt", gab sie eifrig Auskunft. "Tagelang wurde in unserer Gegend von nichts anderem gesprochen. Meiner Lucy ist angeboten worden, auf Drago Castle zu arbeiten. An und für sich wäre es ein Segen für uns, wenn sie endlich eine Arbeit finden würde, aber ich habe ihr abgeraten. Immerhin soll es auf dem Besitz spuken. Ich persönlich glaube, dass man dem alten Lord ein schreckliches Unrecht angetan hat."
"Sie meinen, dass Lady Forbes nicht von ihrem Schwiegervater, sondern von einem Geist ermordet worden ist?" Rebecca bemühte sich, ernst zu bleiben. Während sie mit Mrs. White das Gepäck ins Haus trug, überlegte sie, was sie über den Mord an Janet Forbes gehört hatte.
In einem Anfall geistiger Umnachtung sollte Stewart Lord Forbes vor drei Jahren seine Schwiegertochter niedergestochen haben. Er hatte die Tat stets bestritten, obwohl man ihn noch mit dem Messer in der Hand bei der Toten gestellt hatte, und behauptet, der alte Dagobert, das Schlossgespenst, hätte Janet ermordet.
"Ich kannte den alten Lord Forbes, er war kein gewalttätiger Mann", erwiderte Mrs. White. "Gut, während der letzten zehn Jahre seines Lebens mag er nicht mehr völlig richtig im Kopf gewesen sein, aber das muss noch lange nicht bedeuten, dass jemand zum Mörder wird." Sie blickte auf die Lebensmittel, die Rebecca in Clovelly gekauft hatte. "Das wäre nicht nötig gewesen, ich habe auch für einiges gesorgt, Miss Deville." Sie öffnete die Tür des Kühlschranks.
"Fein, dann werde ich wenigstens nicht verhungern", meinte Rebecca. Sie gab Mrs. White ein gerahmtes Bild. "Ich dachte, dass es Ihnen etwas Freude macht."
"Danke, tausend Dank." Emily White strahlte. "Deshalb sollte ich Ihnen also ein Foto meiner Enkelkinder schicken." Sie drückte das Bild an sich. "Es wird einen Ehrenplatz in meinem Haus erhalten", versprach sie, dann sah sie die junge Frau neugierig an. "Wird Mister Hale nachkommen, Miss Deville?"
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