"Mister Hale hat sehr viel zu tun", erklärte Rebecca und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, was sie fühlte.
"Das glaube ich gerne", erwiderte die Wirtschafterin. "Nun, dann werde ich jetzt gehen. Wenn Sie etwas brauchen, ein Anruf genügt und ich stehe Ihnen zur Verfügung." Sie wandte sich der Tür zu. "Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee von Lord Forbes gewesen ist, nach Drago Castle zurückzukehren. Der Besitz ist unheimlich genug, aber wenn man bedenkt, was dort schon alles geschehen ist ..." Sie seufzte auf. "Die kleine Miss Carol tut mir leid. In Frankreich hat es ihr bestimmt besser gefallen."
"Haben Sie die Kleine schon gesehen?"
"Am Sonntag in der Kirche, und gestern war sie mit ihrer Gouvernante im Dorf." Missbilligend schüttelte Mrs. White den Kopf. "Wie man hört, erhält Miss Carol, bis sie ins Internat kommt, Privatunterricht. Ich finde es nicht für richtig, ein Kind so isoliert aufwachsen zu lassen. Irgend jemand sollte Seiner Lordschaft einmal gründlich die Meinung sagen."
Rebecca lachte leise auf. "Warum schauen Sie mich dabei so erwartungsvoll an, Mistreß White?", fragte sie. "Also, ich werde es auf keinen Fall tun, abgesehen davon, dass ich Lord Forbes überhaupt nicht kenne."
"Es war auch nur so ein Gedanke", meinte die Wirtschafterin. "Sie sind immerhin eine berühmte Malerin, jemand, der etwas darstellt. Wenn unsereiner Seiner Lordschaft mit so etwas kommen würde, er hätte nicht einmal die Chance, angehört zu werden."
"Ganz so schlimm wird es sicher nicht sein", bemerkte Rebecca.
"Sie kennen Seine Lordschaft nicht", antwortete Mrs. White. "Schon vor dem Mord an seiner Frau konnte man ihn nicht gerade einen umgänglichen Menschen nennen. Er hat es stets verstanden, Abstand zu uns zu halten. Sein Vater ist da ganz anders gewesen. Wenn es ihm danach war, ist er mit den Fischern hinausgefahren oder hat sie zu einem Umtrunk eingeladen." Sie seufzte auf. "Man sollte nicht glauben, dass ein Mann wie er es versteht, so einfühlsame Bücher zu schreiben. Ich habe es bestimmt nicht mit dem Lesen, aber wenn von Seiner Lordschaft ein neues Buch erschienen ist, kaufe ich es mir."
Mrs. White wünschte Rebecca eine gute Nacht, stieg auf ihr Fahrrad und kehrte zu dem Häuschen zurück, dass sie unweit der Siedlung mit ihrer Familie bewohnte.
Die junge Frau packte in Ruhe ihre Koffer aus, dann ging sie in die Küche hinunter und bereitete das Abendessen. Als sie es auf einem Tablett in den Wohnraum trug, fiel ihr Blick auf das Klavier, das am Fenster stand. Es schien regelrecht auf Robert zu warten. Nachdenklich schlug sie mehrere Takte eines Stückes an, das er komponiert hatte.
Nach dem Abendessen beschloss Rebecca, noch ein Stückchen spazieren zu gehen. In der Großstadt vermied sie es, bei Dunkelheit unterwegs zu sein, hier machte es ihr nichts aus. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass ihr auf dem Land genauso viel passieren konnte wie in der Stadt.
Auf einem schmalen Pfad kletterte sie zwischen den Klippen zum Meer hinunter. Sie zog sich die Schuhe aus und rannte durch den weichen, feinen Sand auf das Wasser zu. Kühl umspielte es ihre bloßen Füße. Als sie die Augen schloss, glaubte sie Robert und sich zu dem Felsen schwimmen zu sehen, der einige Meter vom Ufer entfernt im Wasser lag. Vergeblich versuchte sie, gegen die Sehnsucht anzukämpfen, die sie erfüllte.
Vergiss ihn, befahl sie sich und blickte zu den Sternen am nachtdunklen Himmel hinauf. Sie wünschte sich heftig, eine Sternschnuppe zu sehen, dann hätte sie einen Wunsch freigehabt. Vielleicht wäre er in Erfüllung gegangen.
Plötzlich fühlte die junge Frau, dass sie beobachtet wurde. Sie wandte sich um. Hinter ihr, hoch oben auf den Klippen, stand eine dunkle, hagere Gestalt. Langsam drehte sie sich um und ging davon.
Du wirst doch nicht das Gespenst von Drago Castle gesehen haben, dachte Rebecca amüsiert. Sie musste Mrs. White fragen, ob der alte Dagobert hin und wieder auch außerhalb der ehrwürdigen Mauern spukte.
Die junge Frau schüttelte das Wasser von ihren Füßen und bückte sich nach den Schuhen. Als sie zu ihrem Haus zurückkehrte, musste sie daran denken, dass Mrs. White nicht glaubte, dass der Vater des jetzigen Lords seine Schwiegertochter umgebracht hatte. Aber das Gericht hatte Stewart Forbes für schuldig befunden und in eine psychiatrische Anstalt einliefern lassen. Vor zwei Jahren hatte der alte Lord dort Selbstmord begangen.
Zu Hause angekommen zog Rebecca eines der Bücher, die Vincent Lord Forbes geschrieben hatte, aus dem Bücherschrank. Er gehörte zu ihren Lieblingsautoren. Sie bewunderte die Empfindsamkeit, mit der er sich in die einzelnen Personen der Handlung einzufühlen vermochte. Zudem war jedes seiner Bücher anders. Er hatte sich nicht auf einen bestimmten Stil festgestellt, sondern überraschte seine Leser stets von Neuem.
Sie schlug das Buch auf. Es handelte sich um einen Roman, der im alten Orient spielte. "Gewidmet meiner lieben Frau Janet, die allzu früh von mir gegangen ist", stand auf der ersten Seite.
Tiefes Mitgefühl mit diesem Mann, der innerhalb weniger Minuten nicht nur seine Frau, sondern auch seinen Vater verloren hatte, ergriff sie. Es musste ein schwerer Schock für ihn gewesen sein, dass Vater Janet erstochen hatte. Kein Wunder, dass er sich in sich selbst zurückgezogen hatte.
Die junge Frau gähnte. Mit dem Buch in der Hand stieg sie die Treppe hinauf. Sie wollte vor dem Schlafen noch etwas lesen, obwohl sie ahnte, dass sie nicht allzu weit kommen würde. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Nun ja, jetzt lag erst einmal ein langer, erholsamer Urlaub vor ihr. Höchste Zeit, dass sie etwas ausspannte.
Rebecca gestand sich ein, dass es hauptsächlich ihre Neugier war, die sie am Sonntag zur Kirche gehen ließ. Obwohl es auf Drago Castle eine kleine Kapelle gab, gehörte es zur Tradition, dass der gesamte Hausstand des Lords am Gottesdienst in der Dorfkirche teilnahm.
Die Malerin hatte sich absichtlich etwas verspätet, um die Ankunft Seiner Lordschaft zu beobachten. Als er aus seiner Limousine stieg, erkannte Rebecca, dass sie an jenem Abend am Meer keineswegs das Schlossgespenst von Drago Castle gesehen hatte, sondern Lord Forbes. Obwohl er den wenigen Leuten, die noch vor der Kirche standen, ein freundliches Nicken schenkte, wirkte er auf eine seltsame Weise unnahbar. Er wandte sich seiner kleinen Tochter zu, die hinter ihm aus der Limousine geklettert war, und nahm sie bei der Hand. Mademoiselle Manet, Carols Gouvernante, folgte ihnen mit den übrigen Angestellten, die in einem zweiten Wagen gekommen waren.
"Ist sie mit ihren blonden Löckchen und den strahlend blauen Augen nicht reizend, die kleine Miss?", hörte Rebecca hinter sich Emily White fragen. Sie wandte sich ihr zu und begrüßte sie. Gemeinsam mit der Wirtschafterin betrat sie wenig später die Kirche.
Lord Forbes und seine Tochter hatten abseits der anderen in der Bank Platz genommen, die seit Generationen seiner Familie vorbehalten war. Es fiel Rebecca schwer, den Blick von ihnen zu wenden. Sie überlegte, ob sie den Lord aufsuchen und ihn bitten konnte, die Bücher, die sie von ihm besaß, zu signieren. Aber vielleicht sollte sie besser damit noch etwas warten. Lord Forbes musste sich erst wieder in England einleben.
Nach dem Gottesdienst lud Mrs. White die junge Frau zum Lunch ein. An und für sich hatte Rebecca vorgehabt, zum Essen nach Land's End zu fahren, aber sie wollte Emily nicht vor den Kopf stoßen, deshalb nahm sie die Einladung an. Als sie gemeinsam das Haus betraten, wurde sie vom Rest der Familie enthusiastisch begrüßt. Sie bedauerte, keine Süßigkeiten für die Enkelkinder der White's dabei zu haben.
"Ich hoffe, Sie mögen kräftige, englische Hausmannskost, Miss Deville", sagte Lucy White, Emilys jüngste Tochter, ein hübsches Mädchen mit einer Stupsnase. "Es gibt Rindfleisch-Stew nach der alten Art, Farmers Pudding und zum Nachtisch eine Fruchtcreme."
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