"Wohin soll es denn heute gehen?" Mrs. White stützte sich auf ihren Besen. "Ich glaube, Sie haben schon bedeutend mehr von Cornwall gesehen als ich. Dabei bin ich hier geboren haben." Sie blickte zum Meer. "Habe ich Ihnen jemals erzählt, dass meine Familie schon seit vielen Generationen hier lebt?"
"Nein." Rebecca schüttelte den Kopf.
"Die meisten meiner Vorfahren waren Fischer." Mrs. White lachte. "Ganz sicher sind auch einige Schmuggler dabei gewesen. In den Höhlen unten am Meer hatten sie ihre Verstecke. Mein Bruder und ich haben als Kinder oft versucht, dort geheime Schätze zu finden. Leider ist es uns nie gelungen."
"Sicher hatten Sie eine schöne Kindheit, Mistreß White."
Emily nickte. "Manchmal sind wir heimlich in den Park von Drago Castle geschlichen und haben die Herrschaften beobachtet. Einmal sind wir dabei erwischt worden und mein Vater hat uns gehörig die Leviten gelesen. Mein Bruder ... Ich halte Sie auf, Miss Deville. Wohin wollten Sie fahren?"
"Ins Bodmin Moor." Rebecca lächelte ihr zu. "Nahe einer halb verfallenen Mühle aus der Zeit Königin Annes, gibt es die Ruinen einer Festung, die mit König Arthus in Verbindung gebracht wird. Er soll dort sehr oft mit dem Zauberer Merlin zusammengetroffen sein."
Emily White lachte auf. "Ich mag zwar an Geistererscheinungen glauben, aber ganz sicher nicht an Zauberei."
"Man muss nicht an Zauberei glauben, um von der Arthussage fasziniert zu sein", bemerkte Rebecca. Sie wollte in ihren Wagen steigen. Die Wirtschafterin hielt sie zurück.
"Man sagt, Sie hätten vor einigen Tagen Seine Lordschaft aufgesucht." Neugierig blickte sie die junge Frau an.
Bitterkeit stieg in Rebecca hoch, als ihr wieder bewusst wurde, mit welcher Arroganz Lord Forbes sie abgefertigt hatte. Trotzdem meinte sie lachend: "Sieht aus, als hätten Sie ein gut funktionierendes Nachrichtennetz aufgebaut, Mistreß White."
"Ich bin gestern im Dorf Mistreß Neill begegnet, die seit einigen Wochen als Köchin auf Drago Castle arbeitet. Maureen erwähnte, Sie im Schloss gesehen zu haben."
Wer mochte sie noch alles beobachtet haben? Rebecca schluckte ihren Ärger hinunter. Bestimmt hatte der Butler in den Wirtschaftsräumen darüber gesprochen, dass sie mehr oder weniger gezwungen worden war, Drago Castle zu verlassen. "Ich hatte etwas mit Lord Forbes zu besprechen", sagte sie.
"So." Emily White hob die Schultern. "Nun, es geht mich nichts an, Miss Deville. Jedenfalls wünsche ich Ihnen einen schönen Tag. Verlaufen Sie sich nicht im Moor. Sie wissen, wie tückisch es sein kann. Manch einer ist nicht mehr zurückgekehrt."
"Ich werde schon auf mich aufpassen", versprach die junge Frau. Sie winkte der Wirtschafterin zu und setzte sich hinter das Steuer ihres Wagens. Bevor Mrs. White noch weitere Fragen stellen konnte, gab sie Gas. Im Rückspiegel sah sie, wie Emily ihr skeptisch nachschaute.
Rebecca zwang sich, wenigstens für kurze Zeit den Mord zu vergessen, den sie skizziert hatte. Ein wunderschöner Tag lag vor ihr. Sie wollte nicht nur die Burgruinen zeichnen, sondern auch einige Skizzen vom Moor machen. Nur zu gern erinnerte sie sich der Moorwanderungen, die sie früher mit ihren Eltern unternommen hatte. Da sie schon als Kind sehr genau gewusst hatte, dass sie bei gewissen Stellen auf keinem Fall vom Weg abweichen durfte, hatten diese Wanderungen immer etwas Abenteuerliches an sich gehabt.
Es war für die junge Frau nicht schwer, die Ruinen der Burg zu finden, obwohl sie in einem ziemlich unwegsamen Gelände lagen. Sie hatte den Wagen fast fünfhundert Meter weiter abstellen müssen. Weit und breit schien außer ihr, kein Mensch zu sein. Hin und wieder entdeckte sie einige wilde Kaninchen und Moorhühner, die bei ihrem Anblick hinter Ginster und niedrigem Buschwerk verschwanden.
Die Malerin suchte sich einen geeigneten Platz, von dem aus sie die Ruinen gut überblicken konnte, dann setzte sie sich auf den runden Hocker, den sie mitgebracht hatte, und begann mit der ersten Skizze. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand. Ihr Stift flog nur so über das Zeichenpapier.
Nachdem Rebecca die Ruinen von allen Seiten skizziert hatte, wandte sie sich der verfallenen Mühle zu, die sich in unmittelbarer Nähe an einem Bach erhob. Sie wirkte bedeutend unheimlicher als die Ruinen und hätte einen fabelhaften Hintergrund für einen Horrorfilm abgegeben. Dennoch ging von ihr etwas Faszinierendes aus.
Die Eingangstür der Mühle war mit zwei dicken Holzbohlen verrammelt. Als die junge Frau sich auf dem Gelände umsah, entdeckte sie einige Meter vom Haus entfernt Stufen, die in die Tiefe zu einer halbrunden Tür führten. Sie nahm nicht an, dass sie sich öffnen ließ. Als sie die schwere Klinke nach unten drücke, sprang die Tür wider Erwarten auf. Modergeruch drang ihr entgegen. Angewidert rümpfte sie die Nase. Dennoch holte sie ihre Taschenlampe aus dem Wagen und kehrte mit ihr zur Mühle zurück.
Rebecca zögerte einen kurzen Augenblick, dann schob sie alle Bedenken beiseite und betrat den Gang. Er führte zu hohen, ausgemauerten Gewölben, die bis auf ein paar Fässer und dicken Seilen leer standen. Es wirkte aus, als hätte seit Jahren niemand mehr diese Gewölbe betreten, aber dem widersprach, dass die Tür sich so mühelos hatte öffnen lassen. Jemand musste die Scharniere erst vor einiger Zeit geölt haben.
Plötzlich empfand die junge Frau Angst. Sie floh ans Tageslicht zurück. Draußen im Sonnenschein lachte sie über diesen Anfall von Furcht. Was sollte ihr schon hier passieren? Jetzt siehst du schon am helllichten Tag Gespenster, dachte sie. Robert würde sich ausschütten vor Lachen. Er ... Betroffen verbot sie sich jeden weiteren Gedanken, an ihren Freund. Trotz allem hatte sie gehofft, dass er ihr nach Cornwall folgen würde, aber er hatte bis jetzt noch nicht einmal angerufen.
Rebecca suchte sich einen gemütlichen Platz am Bach und nahm ihren Lunch im Schatten der Mühle ein. Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, Mühle und Bach zu skizzieren. Es dunkelte bereits, als sie nach Hause zurückkehrte.
Die Malerin war nur noch zwei Kilometer von Clovelly entfernt, als sie abrupt am Straßenrand anhielt. Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm sie den Skizzenblock aus der Mappe und einen spitzen Bleistift. Mit wenigen Strichen skizzierte sie erneut die Mühle und zeichnete dieses Mal noch drei Männer hinzu. Sie trugen einige verhüllte Gegenstände in den Keller, darunter auch etwas, was wie ein Bild wirkte. Die Männer wandten ihr den Rücken zu, dennoch kam es ihr vor, als würde sie einen von ihnen kennen.
Es ist zum Verrücktwerden! Rebecca starrte wütend auf die Skizze. Sie war sich sicher, wieder eine Vision zu haben. Anders als bei ihren Früheren konnte die junge Frau sie nicht deuten.
Wann werde ich endlich von dieser Last befreit, dachte sie niedergeschlagen. Ihre Flucht nach Cornwall schien alles nur noch komplizierter gemacht zu haben.
Die junge Frau steckte den Skizzenblock wieder weg und fuhr weiter. Sie beschloss, nicht länger über ihre Visionen nachzudenken. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal darüber sprechen. Die Reaktion Lord Forbes' sollte ihr für alle Zukunft eine Warnung sein.
Die nächsten Tage verstrichen ereignislos. Rebecca ging oft zum Strand hinunter, wo sie interessante Leute kennenlernte, die ihre Ferien in Cornwall verbrachten. Mrs. White machte sie mit einigen der Fischer bekannt und manchmal fuhr sie abends mit ihnen aufs Meer hinaus. Es faszinierte die junge Frau, wie die Männer ihre kleinen Boote sicher durch die Brandung steuerten. Trotz der Dunkelheit gelang es ihr, sie skizzieren. Als man sie fragte, ob sie nicht Lust hätte, am Ende des Sommers ihre Bilder von Cornwall im Gemeindehaus auszustellen, sagte sie zu.
Es war Rebecca gelungen, jeden Gedanken an ihre Visionen in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins zu verdrängen. Seit ihrer Rückkehr vom Bodmin Moor hatte sie auch keine weiteren Zukunftsbilder mehr gesehen. Dann wurde sie schlagartig an alles erinnert, als Mrs. White eines Morgens völlig aufgelöst zu ihr kam.
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