Mrs. White schien nichts von der Skizze zu wissen. Rebecca war froh, dass Constabler Green darüber geschwiegen hatte. "Ich nahm nur an, dass das Versteck in der alten Mühle liegen könnte", antwortete sie. "Man könnte es Intuition nennen."
"Passiert Ihnen das öfters?" Emily White blickte der jungen Frau ins Gesicht. "Ich meine, so etwas grenzt ja schon fast an Hellseherei." Sie lachte. "Meine Lucy meinte, früher hätte man Sie bestimmt als Hexe verbrannt."
Rebecca lachte gezwungen auf. "Jetzt übertreiben Sie aber." Ihre Rückenschmerzen ignorierend richtete sie sich mühsam auf und griff nach der Teetasse. "Ah, das tut gut", sagte sie. "Genau, was mein zerschlagener Körper braucht."
"Ich bin so froh, dass Ihnen nichts passiert ist", meinte Mrs. White.
"Unkraut vergeht nicht", erwiderte die Malerin munterer, als sie sich fühlte.
"Sie hatten großes Glück", bemerkte die Wirtschafterin. Es klingelte. Unwillig wandte sie sich um. "Soll ich nachschauen, wer es ist, Miss Deville?"
"Ja, bitte." Rebecca stellte die Teetasse auf den Nachttisch zurück. Sie nahm einen Kamm aus dem Schubfach und fuhr damit flüchtig durch ihre Haare.
"Constabler Green möchte Sie sprechen", meldete Emily gleich darauf. "Darf er zu Ihnen ins Schlafzimmer kommen?" Skeptisch blickte sie die junge Frau an.
"Natürlich." Rebecca zog automatisch ihre Decke etwas höher.
"Bitte." Emily trat beiseite.
"Guten Morgen, Miss Deville. Bitte verzeihen Sie die Störung, aber ich wollte sehen, wie es Ihnen geht." Der Constabler wandte sich Emily zu. "Würden Sie uns bitte einige Minuten alleine lassen, Mistreß White?"
"Wie Sie wünschen." Die Wirtschafterin warf Rebecca einen kurzen Blick zu. "Wenn Sie mich brauchen, ich bin in der Küche, Miss Deville."
Der Polizist lachte leise auf, nachdem sich die Tür hinter Emily White geschlossen hatte. "Neugierig wie immer", bemerkte er, dann blickte er Rebecca besorgt an. "Wie fühlen Sie sich? Es wäre besser gewesen, Sie hätten nicht darauf bestanden, die Klinik gleich wieder zu verlassen."
Rebecca konnte sich noch dunkel daran erinnern, dass man sie in eine Bodminer Klinik gebracht hatte, nachdem sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war. Man hatte sie dort gründlich untersucht und ihr geraten, ein, zwei Tage zur Beobachtung zu bleiben. Sie hatte es abgelehnt.
"Es geht mir gut", erwiderte sie. "Machen Sie sich keine Sorgen." Lächelnd fügte sie hinzu: "Mein Schutzengel hat Überstunden gemacht."
Der Constabler stieß scharf die Luft aus. "Gott sei Dank! Tun Sie so etwas nie wieder, Miss Deville." Er strich sich über die Stirn. "Ich konnte es kaum glauben, als ich Sie um Hilfe rufen hörte. Wie kann man nur so leichtsinnig sein Leben aufs Spiel setzen?"
"Ich wollte herausfinden, ob meine Vision der Wirklichkeit entsprach", antwortete die Malerin. "In meiner Situation hätten sie genauso gehandelt."
"Mit dem Unterschied, dass ich es gelernt habe, mit derartigen Situationen fertig zu werden."
"Was hat Sie veranlasst, mitten in der Nacht zur Mühle zu fahren, Mister Green?", fragte Rebecca. "Mit Ihnen hätte ich zuletzt gerechnet, obwohl mir nie jemand willkommener war. Gestern Nachmittag hätten Sie mich noch am liebsten in eine psychiatrische Anstalt sperren lassen."
"Sie können es mir nicht übel nehmen, dass ich Ihnen nicht glauben wollte", meinte Green. "Bei der Polizei hat man nicht jeden Tag mit jemanden zu tun, der sozusagen hellsehen kann. Ich war also überzeugt, dass Sie sich irgendetwas ausgedacht haben, dennoch musste ich den Rest des Tages immer wieder an Ihre Skizze denken.
Ich lag bereits im Bett, als ich es nicht mehr aushielt. Ich rief zwei Kollegen an, erzählte Ihnen von der Skizze, ertrug ihr Gelächter und überredete sie, mit mir ins Bodminer Moor zu fahren."
Er verzog das Gesicht. "Wir kamen gerade noch zur rechten Zeit. Einige Minuten später und die Täter wären mit der Beute über alle Berge gewesen."
"Was haben Ihre Vorgesetzten zu Ihrem Erfolg gesagt?", fragte Rebecca.
"Sie waren fassungslos", gestand der Constabler. "Vor allen Dingen, als ich Ihnen sagte, warum wir zur Mühle gefahren sind." Er sah sie an. "Inspektor Durand wird Sie später noch aufsuchen, Miss Deville. Es gibt noch einiges, was er von Ihnen wissen möchte. Vermutlich liegt es auch in Ihrem Interesse, dass wir der Presse gegenüber nichts von Ihrer Vision erwähnt haben."
"Eine kluge Entscheidung", bemerkte die junge Frau. "Ich möchte nicht, dass man mich für eine Hellseherin hält." Sie schenkte ihm ein Lächeln. "Ich bin nach wie vor überzeugt, dass diese Visionen mit meiner Gehirnerschütterung zusammenhängen. Hoffentlich verliert sich diese Gabe eines Tages wieder. Glücklich bin ich nicht über sie."
"Das kann ich mir denken", erwiderte er. "Ich wünschte nur, ich hätte Ihnen sofort geglaubt. Ich hielt Sie für eine junge Frau, die unter allen Umständen im Mittelpunkt stehen will." Er ergriff ihre Hand. "Es war sehr dumm, wenn auch mutig, was Sie getan haben. Aber vergessen Sie nicht, es hätte Ihnen das Leben kosten können. Also bitte, unternehmen Sie in Zukunft nichts dergleichen mehr."
"Versprochen." Rebecca atmete tief durch. "Meine Abenteuerlust hält sich vorerst ohnehin in Grenzen, darauf können Sie sich verlassen. Als mich die drei Männer alleine in der Mühle zurückließen, stand mir ein furchtbarer Tod bevor. So schnell werde ich das sicher nicht vergessen."
Erst als Constabler Green gegangen war, dachte die junge Frau wieder an die andere Vision, die sie gehabt hatte. Vielleicht sollte sie mit ihm darüber sprechen, dass in naher Zukunft ein weiterer Mord auf Drago Castle geschehen würde. Aber was konnte er schon unternehmen? Man konnte die Schlosskapelle nicht Tag und Nacht überwachen lassen.
Emily White kehrte zurück. Es überraschte sie, dass Rebecca aufstehen wollte. "Sie sollten besser bis morgen liegen bleiben", riet sie besorgt. "So ein Erlebnis will verkraftet werden. Ich an Ihrer Stelle würde mich wochenlang nicht mehr aus meinem Bett wagen. Also lassen Sie sich ruhig etwas umsorgen."
"Ich fühle mich wirklich wohl", sagte die Malerin. "Ich werde mich etwas in den Garten setzen."
Die Wirtschafterin schüttelte missbilligend den Kopf. "Sie sind unverbesserlich, Miss Deville", meinte sie tadelnd.
"Seien Sie nicht so streng mit mir, Mistreß White", bat die junge Frau. "Sagen Sie, hätten Sie nicht Lust, mir Modell zu sitzen?"
"Gerne", stimmte die Wirtschafterin zu. "Ich laufe nur schnell nach Hause und ziehe mir etwas anderes an." Sie wandte sich der Tür zu. "Falls Sie Hunger haben, ich habe Ihnen ein Tablett gerichtet. Eigentlich wollte ich es nach oben bringen, aber da Sie ohnehin aufstehen, wäre es ja sinnlos."
"Ich werde im Garten essen", entschied Rebecca.
Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und ging ins Bad. Als sie sich zum Duschen auszog, sah sie im Spiegel die blauen Flecken, die ihren Körper bedeckten. Kein Wunder, dass jede Bewegung sie schmerzte. Wie Mrs. White sagte, sie hatte wirklich großes Glück gehabt. Die letzte Nacht hätte auch das Ende für sie bedeuten können.
Plötzlich musste die junge Frau an ihren Freund denken. Ob Robert um sie getrauert hätte? Der Wunsch ihn anzurufen und ihm alles zu erzählen, wurde so stark, dass sie sich ihren Morgenrock wieder überwarf und ins Schlafzimmer zurückkehrte. Hastig hob sie den Telefonhörer ab.
Erst nach dem fünften Klingelton ging der junge Komponist ans Telefon. "Oh, du bist es, Rebecca", meinte er überrascht, als sie sich meldete. "Schön, dass du anrufst, nur leider hast du einen ziemlich ungünstigen Zeitpunkt gewählt. Ich muss in fünf Minuten weg."
"Ich wollte dich auch nicht stören, Robert", erwiderte Rebecca und ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. "Dann einen schönen Tag." Sie legte auf.
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