"Stellen Sie sich vor, in der Nacht ist auf Drago Castle eingebrochen worden!", stieß sie heiser hervor. "Ich habe es gerade von Jeffrey erfahren."
"Wer ist Jeffrey?", fragte die Malerin.
"Ein junger Bursche, der hin und wieder Besorgungen für den Haushalt Seiner Lordschaft macht", gab Emily bereitwillig Auskunft. "Die Polizei ist bereits auf Drago Castle. Es soll sogar Verstärkung von Bodmin angefordert worden sein. Unser guter Constabler Green ist mit so einem Fall auch sicher überfordert." Sie schüttelte missbilligend den Kopf. "Wo soll das in dieser Welt noch hinführen, wenn Diebe jetzt nicht einmal mehr vor Heiligenbildern haltmachen."
"Sie meinen, das Bildnis der Heiligen Agnes ist gestohlen worden?", fragte Rebecca erregt. Im selben Moment fiel ihr die Szene ein, die sie auf der Rückfahrt vom Bodmin Moor gesehen hatte. Die Männer hatten etwas in den Keller getragen, das wie ein großes Bild gewirkt hatte. - Nein, unmöglich, sie konnte nicht den Einbruch in der Schlosskapelle vorausgesehen haben. Nervös strich sie sich die Haare zurück.
"Fühlen Sie sich nicht wohl, Miss Deville?" Die Wirtschafterin sah sie besorgt an. "Sie sind plötzlich so blass. Vielleicht sollten Sie nicht so oft an die Sonne gehen."
Rebecca zwang sich zu einem Lächeln. "Ich habe nur etwas Migräne", log sie. Zum Glück konnte Emily White nicht wissen, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keine Migräne gehabt hatte.
"Meine Mutter hat auch unter Migräne gelitten, die arme Seele", meinte die Wirtschafterin seufzend. "Schlimm für Seine Lordschaft. Immerhin handelt es sich um ein sehr wertvolles Bild. Ich kann mir vorstellen, wie ihn der Verlust getroffen hat."
"Nun, wenn er Glück hat, wird man die Täter und die Beute über kurz oder lang finden", antwortete die Malerin und musste wieder an den Keller unterhalb der alten Mühle denken. "Ist noch mehr gestohlen worden?"
"Ja, noch einige andere Bilder, außerdem Leuchter, die silberne Taufschale, die seit Generationen in der Familie ist, der dazugehörige Wasserkrug und mehrere wertvolle Bücher, die in einem Schrank in der Sakristei standen." Wieder seufzte Emily auf. "Als hätte Seine Lordschaft nicht schon genug Kummer gehabt. Manche Menschen sind wirklich vom Pech verfolgt."
An diesem Vormittag fand Rebecca keine Ruhe am Strand. Sie beschloss, in einem kleinen Café an der Hauptstraße von Clovelly ein Eis zu essen. Kaum hatte sie das Café betreten, wurde sie auch schon von den anderen Leuten befragt, was sie zu dem Einbruch in der Schlosskapelle sagen würde.
"Man sollte meinen, dass der Geist des alten Dagoberts die Schurken davon abgehalten hätte, das Bildnis der Heiligen Agnes mitzunehmen", meinte eine ältere Frau, deren Familie seit Generationen im Dorf lebte.
"Nun, nach allem, was man sich so über den alten Dagobert erzählt, hat er die Einbrecher vielleicht noch extra auf das Heiligenbild hingewiesen", lachte der Besitzer der Eisdiele. "Bedauerlich für Seine Lordschaft. Ich hätte Lord Forbes etwas mehr Glück gegönnt."
"Bestimmt war das Bild versichert", meinte eine junge Frau, die neben Rebecca stand und auf ihr Eis wartete. "Außerdem gibt es Schlimmeres auf der Welt, als den Einbruch in eine Schlosskapelle. Wenn unsereinem die Handtasche geraubt wird, macht man längst nicht soviel Trara."
"Ihre Handtasche wird auch kaum Wunder wirken können", erwiderte der Besitzer der Eisdiele. Es war ihm anzumerken, dass ihm die Meinung der jungen Frau nicht gefiel. Wie die meisten Leute von Clovelly war er stolz, im Schatten von Drago Castle zu leben.
Zum Lunch kehrte Rebecca nach Hause zurück. Als sie sich mit ihrem Essen ins Wohnzimmer setzte, fiel ihr Blick auf Roberts Foto. Warum meldete er sich nicht? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er nichts mehr für sie empfand. Gut, sie hatte ihn mit ihrem Verhalten gekränkt, aber machte nicht jeder Mensch einmal Fehler?
Die junge Frau überlegte, ob sie ihm schreiben sollte. Anrufen hatte wenig Sinn. Robert hatte es bisher jedes Mal verstanden, sie sofort wieder aus der Leitung zu würgen.
Die Malerin trat ans Klavier und griff nach dem Foto ihres Freundes. Sehnsuchtsvoll berührte sie sein Gesicht. Spürst du nicht, wie sehr ich dich brauche, dachte sie. Wenn du wüsstest, wie du mir fehlst.
Nach dem Essen setzte sich Rebecca in den Garten, um etwas zu lesen, aber schon nach wenigen Seiten ließ sie das Buch sinken und blickte nach Drago Castle hinauf. Sie stand auf und holte die Skizze, die sie auf der Rückfahrt vom Bodmin Moor gemacht hatte, aus ihrer Arbeitsmappe. Inzwischen war sie sich ganz sicher, dass die Einbrecher ihre Beute im Keller der Mühle versteckt hatten. Sollte sie mit der Skizze zur Polizei gehen?
Man wird mich auslachen und für verrückt erklären, überlegte Rebecca. Nach allem, wie Lord Forbes sie behandelt hatte, war er es auch nicht wert, dass sie sich um den Verbleib des Heiligenbildes sorgte. Zudem glaubte sie ohnehin nicht daran, dass es Wunder vollbringen konnte.
Aber war es nicht ihre Pflicht, mit der Polizei über die Mühle zu sprechen? Immerhin handelte es sich um ein Verbrechen. Wieder dachte sie darüber nach, wo sie den einen der Männer schon gesehen hatte. Es musste sich um jemanden aus Clovelly handeln. Konnte es einer der Fischer sein? - Nein, da war sie sich ganz sicher. Vielleicht gehörte dieser Mann zu den Touristen, die wie die Heuschrecken über die kleine Ortschaft hergefallen waren.
Rebecca blickte erneut zum Schloss hinauf. Sie hatte wirklich keinen Grund, sich Lord Forbes' wegen lächerlich zu machen, andererseits durfte es nicht sein, dass die Männer, die in die Schlosskapelle eingebrochen waren, ungestraft davonkamen. Widerwillig beschloss sie, sich doch an die Polizei zu wenden.
Ich werde bis morgen früh damit warten, dachte sie. Vielleicht hat man bis dahin bereits eine Spur gefunden, dann muss ich mich nicht in die Ermittlungen einmischen. Immerhin könnte es sein, dass ... Sie lachte unfroh auf. Du bist ein Feigling, sagte sie sich. Du hast nur Angst, deine Geschichte der Polizei zu erzählen.
Die junge Frau schluckte. Am besten, sie fuhr sofort nach Clovelly. Wenn sie Glück hatte, konnte sie Constabler Green alleine sprechen. Zuhörer waren das Letzte, was sie sich wünschte.
Rebecca zögerte noch ein paar Minuten, dann zog sie sich um und verließ mit der Skizze das Haus. Ohne Eile fuhr sie nach Clovelly. Es war, als würde sie auf ein Wunder warten, dass sie davor bewahrte, von ihrer Vision zu erzählen.
Constabler Green saß alleine in seinem Büro und telefonierte, als die Malerin eintrat. Er blickte zu ihr auf. Seine Augenbrauen hoben sich überrascht, als er Rebecca erkannte. Ohne sein Gespräch zu unterbrechen wies er auf einen Stuhl.
Die junge Frau nahm Platz. Sie fühlte, wie ihre Hände feucht wurden. Am liebsten wäre sie aus dem staubigen Büro an die frische Luft geflohen. Sie überlegte bereits, ob sie nicht einfach wieder gehen sollte, als der Constabler sein Gespräch beendete.
"Miss Deville, was kann ich für Sie tun?", fragte er freundlich. Sein gehetzter Gesichtsausdruck verriet nur allzu deutlich, dass er nicht daran dachte, ihr sehr viel Zeit zu widmen. "Es ist heute ein ziemlich verrückter Tag", fügte er hinzu. "Sie haben sicher von dem Einbruch auf Drago Castle gehört. Lord Forbes gehört nicht gerade zu den geduldigen Menschen." Er hob die Schultern. "Also, was haben Sie für einen Kummer?"
"Es handelt sich um den Einbruch", erwiderte Rebecca und stand auf. Sie nahm die Skizze aus ihrer Tasche und schob sie ihm entgegen.
Constabler Green warf einen kurzen Blick auf die Skizze. "Und?" Erneut hob er die Augenbrauen.
Rebecca sprach von ihrem Ausflug nach Bodmin Moor. Als sie ihre Visionen erwähnte, verzogen sich seine Lippen spöttisch. "Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie mir nicht glauben", sagte sie und sprach von dem Flugzeugabsturz und das Eisenbahnunglück. Sie überlegte, ob sie auch von dem Mord in der Schlosskapelle sprechen sollte und entschied sich dagegen. "Vermutlich fragen Sie sich gerade, ob Sie nicht einen Arzt rufen sollen", fügte sie hinzu.
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