Der Polizist holte tief Luft. "Ich kenne Sie, Miss Deville, und ich schätze Sie als Menschen und als Malerin, aber Sie müssen selbst zugeben, dass Ihre Geschichte reichlich ... na, sagen wir, kurios klingt. Ich bin kein Mensch, der für Hellseherei oder dererlei Unsinn etwas übrig hätte. Für mich zählen Fakten, bloße Fakten, und bisher bin ich damit stets gut gefahren."
"Mister Green, dennoch sollte man oft auch das Unmögliche in Erwägung ziehen", widersprach Rebecca. "Was wäre dabei, wenn Sie den Keller der Mühle durchsuchen?"
Er lachte bitter auf. "Sie scheinen zu vergessen, dass ich für die Bodminer Umgebung nicht zuständig bin. Dieser Fall ist mir ohnehin faktisch bereits aus den Händen genommen worden. Können Sie sich vorstellen, was man mir erzählen wird, wenn ich meinen Vorgesetzten mit so einer Geschichte komme?"
"Hin und wieder lohnt es sich, auch einmal etwas zu riskieren", wandte die Malerin ein. "Meinen Sie, ich hätte keine Bedenken gehabt, Ihnen die Skizze zu zeigen?"
Er sah sie forschend an. "Sie scheinen felsenfest von Ihrer Geschichte überzeugt zu sein."
"Ja." Rebecca nickte. "An Ihrer Stelle würde ich jedem Hinweis nachgehen, selbst, wenn er noch so verrückt klingen mag. Immerhin könnte es Ihrer Karriere förderlich sein, wenn durch Ihre Hilfe die Diebesbeute sichergestellt wird." Sie stand auf und stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte. Sie spürte, wie der Constabler über ihre Worte nachdachte. "Bitte glauben Sie mir, ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich auch nur die geringsten Zweifel hätte."
Constabler Green warf einen weiteren Blick auf die Skizze. Er seufzte laut auf, dann schüttelte er den Kopf. "Tut mir leid, Miss Deville, aber ich habe nicht vor, mich lächerlich zu machen." Er gab ihr die Skizze zurück. "Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe sehr viel zu tun."
"Wenn Sie schon nicht mit Ihren Vorgesetzten über die Skizze sprechen wollen, so könnten Sie immerhin sozusagen als Privatmann zur Mühle fahren. Ich glaube kaum, dass es ein Gesetz gibt, das dagegen spricht." Rebecca stützte sich auf seinem Schreibtisch auf. "Es wäre ein Versuch, Mister Green."
"Miss Deville, ich habe wirklich keine Zeit, mit Ihnen noch länger über Ihre angebliche Vision zu diskutieren", unterbrach sie der Constabler gequält.
Rebecca spürte, wie Wut in ihr aufstieg, aber sie beherrschte sich. "Sie müssen wissen, was Sie tun, Constabler", bemerkte sie kühl und steckte die Skizze in ihre Handtasche zurück. "Einen schönen Tag noch." Sie drehte sich um und verließ die Polizeistation.
Während der Heimfahrt zwang sich die junge Frau, nicht mehr an den Einbruch zu denken. Sie überlegte, was sie am nächsten Tag unternehmen sollte, aber dennoch glitten ihre Gedanken immer wieder zur Mühle zurück. Sollte sie auf eigene Faust ...
Nein, sagte sie sich. Warum sollte sie sich wegen Lord Forbes in Gefahr begeben? Reichte es nicht, dass Constabler Green sie für verrückt hielt? Wahrscheinlich würde er sogar mit seiner Frau über ihre angebliche 'Hellseherei' sprechen. Vermutlich würde bald ganz Clovelly hinter vorgehaltener Hand über sie lachen.
Am besten ich packe meine Sachen und fahre nach London zurück, dachte Rebecca, als sie sich in ihrer kleinen Küche etwas zum Abendessen machte. Aber sollte sie wirklich einfach aufgeben? Es war nicht ihre Art, davonzulaufen. Was sprach dagegen, nach Einbruch der Dunkelheit der Mühle einen Besuch abzustatten?
Die Malerin gestand sich ein, dass sehr viel dagegen sprach, aber sie wusste auch, dass sie dennoch ins Bodminer Moor fahren würde. Sie musste herausfinden, ob die Vision, die sie gehabt hatte, mit der Wirklichkeit übereinstimmte.
Die Sonne war längst untergegangen, als Rebecca Deville ihren Wagen hinter einem niedrigen Hügel, der jenseits der Straße lag, abstellte. Sie hatte es nicht gewagt, den Wagen einfach an der Straße stehen zu lassen. Immerhin musste sie damit rechnen, dass auch die Männer, die das Heiligenbild gestohlen hatten, in dieser Nacht zur alten Mühle fahren würden.
Ihr Herz schlug laut und schmerzhaft, als sie sich dem verfallenen Gebäude zuwandte. Sie hatte Angst und das nicht nur wegen der Männer, die in die Schlosskapelle eingedrungen waren. Schon am Tag wirkte die Mühle unheimlich, jetzt in der Nacht, schien sie tatsächlich ein Hort aller möglichen Spukgestalten zu sein.
Hör auf, dir etwas einzureden, befahl sich Rebecca und zwang sich, den Blick nicht der Mühle zuzuwenden, sondern ohne nach rechts und links zu sehen, auf den Keller zuzugehen. Kalter Schweiß rann ihr den Nacken hinunter. Jedes Härchen auf ihrem Körper schien sich aufgerichtet zu haben.
Endlich hatte die junge Frau die Kellertreppe erreicht. Erschrocken zuckte sie zusammen, als ein Nachtvogel einen klagenden Schrei ausstieß. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre in panischer Angst davongelaufen.
"Mach nur so weiter", sagte sie verächtlich vor sich hin.
Es war eine schwüle Nacht, doch Rebecca fror. Statt Blut schien flüssiges Eis durch ihre Adern zu strömen. Mit der rechten Hand umklammerte sie die Taschenlampe so fest, dass ihre Finger schmerzten.
Vorsichtig stieg die Malerin die ausgetretenen Stufen zum Keller hinunter. Dann stand sie vor der halbrunden Tür. Sie streckte die Hand aus und drückte mit angehaltenem Atem die schwere Klinke hinunter. Genauso leicht wie bei ihrem ersten Besuch, sprang die Tür auf.
Damit hatte Rebecca nicht gerechnet und sich deshalb, in einer Bodminer Eisenwarenhandlung ein Stemmeisen gekauft. Die Männer, die ihre Beute hier versteckt hatten, mussten sich ihrer Sache sehr sicher gewesen sein. Vermutlich war außer ihnen nie jemand hergekommen.
Angewidert rümpfte die junge Frau die Nase, als ihr der Modergeruch aus den Kellerräumen entgegen drang. Der Gang, der zu ihnen führte, erschien ihr wie ein schwarzer Schlund, der sie zu verschlingen drohte. Es kostete sie Überwindung, den ersten Schritt zu tun.
Das Licht der Taschenlampe huschte über die ausgemauerten Wände. Glühende Augen schienen sie aus der Dunkelheit heraus anzustarren. Langsam, um nicht über etwas zu stolpern, kämpfte sich Rebecca Schritt für Schritt vorwärts. In den Gewölben schien sich seit ihrem ersten Besuch nichts verändert zu haben. Bis auf die alten Fässer und die Seile waren sie leer.
Sollte sie sich geirrt haben? Hatte ihr die Fantasie einen Streich gespielt?
Rebecca hätte gerne daran geglaubt, denn es hätte ihr bewiesen, dass sie nicht in die Zukunft sehen konnte, leider durfte sie es sich nicht so einfach machen. Immerhin hatte sie den Flugzeugabsturz und das Eisenbahnunglück vorausgesehen. Sie war sich nach wie vor sicher, auf dem Rückweg nach Clovelly eine Vision gehabt zu haben.
Die Malerin ließ das Licht der Taschenlampe über die schmutzigen Wände huschen. Plötzlich hörte sie ein gespenstisches Rascheln. Erschrocken schrie sie auf. Gleich darauf sah sie etwas Graues hinter einem der Fässer verschwinden.
Ratten, dachte sie entsetzt und kämpfte die Angst nieder, die in ihr aufstieg. Erst vor einigen Tagen hatte sie gelesen, dass in New York ein Kind von Ratten entsetzlich zugerichtet worden war.
Du bist längst kein Kind mehr, versuchte sie, sich selbst Mut zu machen. Außerdem war es lächerlich, vor jemanden davonzulaufen, der ihr, selbst wenn er sich aufstellte, nicht einmal bis ans Knie reichte.
Rebecca ging entschlossen weiter und schlüpfte durch eine schmale Tür, die sie bei ihrem ersten Besuch nicht entdeckt hatte. Sie stand jetzt in einer fast viereckigen Kammer. Im Hintergrund führte eine Steintreppe nach oben. Sie nahm an, dass sie sich direkt unterhalb der Mühle befand.
Sollte sie die Treppe hinaufsteigen? Alleine schon der Gedanke, die Mühle zu betreten, trieb der jungen Frau den Schweiß aus den Poren. Widerwillig machte sie einige Schritte auf die Treppe zu. Vor ihren Füßen schienen sich unsichtbare Barrikaden aufzubauen. Dann hatte sie es geschafft. Sie holte noch einmal tief Luft und setzte ihren Fuß auf die erste Stufe.
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