Hungrig öffnete er den Mund und vertiefte den Kuss derart intensiv, dass Khyra schier die Sinne geraubt wurden. Sie krallte die Finger in seine Jacke und drängte sich gegen ihn. Die Stimme, die in ihrem Kopf schrie und verdächtig nach ihrer Schwester klang, ignorierte sie geflissentlich.
Doch Kian schien stärker zu sein. Vielleicht schrie die Stimme in seinem Kopf lauter?
Er löste atemlos den Kuss, während seine Hände an ihren Oberarmen verharrten.
»Khyra, ehrlich...«, flüsterte er und sah sie mit zusammengepressten Lippen an. »Bitte zieh dir was an.«
Sie grinste entschuldigend. Die kaum verhohlene Leidenschaft, die in seinen Augen flackerte, empfand sie nicht weniger intensiv.
»Dann musst du mich aber loslassen.«
Sein Lachen klang atemlos.
»Ich beeil mich«, versprach sie und ging rasch ins Schlafzimmer. Erst jetzt sah sie, welches Chaos sie veranstaltet hatte. Wahllos zog sie eine Jeans aus dem Haufen, der auf ihrer Bettdecke lag, schlüpfte hinein, und während sie auf einem Bein durchs Zimmer hüpfte, hielt sie Ausschau nach einem Oberteil.
Kian stand vor ihrer Bildergalerie, als sie in den Flur zurückkehrte, und betrachtete ihre Fotos. Sie zeigten hauptsächlich sie selbst und ihre Schwester.
Kian wandte sich zu ihr um und lächelte wieder.
»Schon besser«, sagte er. Sie grinste entschuldigend und ging etwas unsicher auf ihn zu. Wie sollte sie sich verhalten? Und waren sie jetzt ein Paar oder nicht? Nervös nestelte sie am Saum ihres Sweaters herum.
»Also, was ist? Darf ich dich auf ein Frühstück einladen?«
»Unser erstes Date?«, fragte sie und grinste erneut. Er lachte und nickte.
»Genau. Ich dachte, wenn wir schon die meisten Regeln der Kunst verletzt haben, können wir wenigstens ein paar andere einhalten.«
»Und dazu gehört ein Frühstück?«
Er verzog das Gesicht.
»Wenn ich es mir recht überlege, gehen in Filmen Leute nur nach einem One-Night-Stand zusammen frühstücken.«
Sie lachte.
»Aber das bin ich nicht für dich, oder?«
Er kam näher und strich mit den Fingerspitzen ganz sanft über ihre Wange.
»Auf keinen Fall«, sagte er leise und beugte sich hinab, um sie zu küssen.
»Ich möchte mit dir zusammen sein«, sagte er dicht an ihren Lippen, »und mir ist egal, dass wir einander kaum kennen. Wir können alles nachholen.«
Sie lächelte selig und stellte sich leicht auf die Fußballen, während sie seine Lippen küsste. Sie schob die Hand in seinen Nacken und spürte ihren ganzen Körper wie wild kribbeln.
Womit hatte sie ihn verdient? Kian... Ein gutaussehender Fremder, der plötzlich so viel mehr für sie war, als sie sich erträumt hatte. Hätte ihre Mutter das doch nur erlebt... Doch wahrscheinlich wäre es ihr egal gewesen... Schmerz durchzuckte sie und verzweifelt versuchte sie, ihn in dem Kuss zu ertränken.
Seufzend löste sich Kian von ihr und strich ihr durchs Haar.
»Schätze es spielt keine Rolle, was du anhast.« Seine Stimme zitterte leicht. Sie lachte wieder und traute sich endlich über seine Bartstoppeln zu streichen.
»Vielleicht sollten wir jetzt frühstücken gehen«, schlug sie vor und er nickte.
Vor dem Eingang des großen Cafés, das Kian ausgewählt hatte, standen Stühle und Tische, doch im Grunde war es noch zu kalt, um dort zu sitzen. Hand in Hand betraten sie den Innenraum des gemütlichen Ladens und Kian führte sie hinüber zu einem der kleinen Tische mit roter Ledereckbank. Sie setzten sich und waren beide etwas verlegen. Es war noch ungewohnt, sich gemeinsam in der Öffentlichkeit zu bewegen.
»Seit wann spielst du schon Gitarre?«, wollte Khyra wissen, während sie sich die Karte ansahen.
Er überlegte kurz.
»Keine Ahnung ehrlich gesagt. Ein Kumpel hat mir irgendwann mal die Grundlagen gezeigt. Und von da an habe ich allein geübt. Das ist nicht so schwer mit einem gewissen Grundverständnis von Musik. Es gibt genügend Tutorials im Internet.«
»Wirklich? Du hast dir das selbst beigebracht?«
»Ja, aber das tun viele. Und ich hatte den Vorteil, dass ich sowohl für Klavier, als auch für Geige bereits Unterricht bekam.«
»Das spielst du auch noch?«, stieß sie überrascht aus. Er wirkte verlegen.
»Ach, nicht besonders gut. Aber manchmal, wenn mich die Muse küsst, nehme ich Lieder auf und dann ist‘s nicht verkehrt, ein paar mehr Instrumente zu beherrschen. Obwohl du mit den richtigen PC Programmen auch diverse Tonspuren einfügen kannst.«
Sie betrachtete ihn ein wenig überrascht.
»Ich dachte, du machst das zum Spaß. Aber das hört sich schon alles sehr professionell an.«
Er lachte und seine Augen leuchteten.
»Glaub mir, da ist gar nichts professionell.«
In diesem Moment kam der Kellner. Sie wählten rasch ihre Gerichte aus und bestellten sich jeder einen Kaffee.
»Und was arbeitest du?«, fragte sie und sofort, als sich sein Gesicht verdunkelte, machte sich ein beklemmendes Gefühl in ihr breit.
»Nichts mehr. Mein Chef hat mich gestern gefeuert. Bis dahin habe ich in einem Pub gearbeitet. Allerdings nur mittags bis abends. Da hat er dort nämlich auch Speisen angeboten.«
»Genau wie Nadeya«, stellte sie überrascht fest. »Sie arbeitet auch in einem Pub und ist musikbegabt.«
»Tatsächlich? Was für Instrumente spielt sie denn?«
»Gar keine. Sie singt. Das ist alles.«
»Und ist sie gut?«, fragte er und ein begeistertes Leuchten erschien in seinen Augen.
»Ich finde schon. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung davon.«
Er lächelte.
»Ich bin sicher, du kannst das einschätzen.«
»Aber ich habe absolut keine Ahnung von Musik.« Sie fühlte sich plötzlich niedergeschlagen, knetete die Finger und wich seinem Blick aus. Wahrscheinlich wäre ihm jemand wie Nadeya lieber gewesen. Eine Frau, die seine Leidenschaft teilte. Vielleicht hatte er insgeheim gehofft, sie würde Musik ebenso lieben, wie er. Wahrscheinlich war er jetzt enttäuscht. Dabei mochte sie Musik tatsächlich. Sie versank gern in den verschiedenen Rhythmen und Gesängen. Doch sie ging nicht so darin auf, wie Nadeya zeitweise. Oder Kian gestern auf der Bühne.
Er musterte sie.
»Was ist los?«
Sie zuckte nur mit den Schultern.
»Nichts.«
Das Frühstück kam und Khyra merkte, wie unglaublich hungrig sie war. Und doch rührte sie das Tablett nicht an. Sie starrte nur darauf, während Kian Milch in seinen Kaffee goss.
»Khyra?«
Sie blickte auf und begegnete seinen durchdringenden, braunen Augen.
»Können wir eine Abmachung treffen?«
»Was für eine Abmachung?«
Sie erstarrte und spürte, dass ihre Hände zitterten. Was meinte er? Würde er ihr jetzt vorschlagen, dass sie eine offene Beziehung führen sollten? Oder vielleicht, dass sie noch warten sollten? Womöglich wollte er auch gar nichts dergleichen...
»Meiner beschränkten Erfahrung nach halten 90 Prozent aller Beziehungen nicht. Viele denken, es liegt an der Unterschiedlichkeit der Partner, aber...«
Unterschiedlichkeit... Sie teilte seine Leidenschaft für Musik nicht. Das war es. Er hatte wahrscheinlich so eine kranke Prioritätenliste und hakte ab, was auf sie zutraf und machte Kreuze, wenn etwas nicht passte...
»... aber ich denke, das liegt an etwas anderem.«
Sie blickte ihn voller Angst an.
»Hör auf mich anzusehen, als würde ich gerade mit dir Schluss machen oder so.« Er lachte zaghaft und griff nach ihrer Hand.
»Willst du das denn nicht?« Ihre Stimme zitterte.
»Nein, natürlich nicht«, sagte er, rückte näher und nahm sie in den Arm. Er strich kurz über ihr Haar und küsste ihre Nasenspitze.
»Ich glaube, dass die meisten Beziehungen daran scheitern, dass man nicht absolut ehrlich zueinander ist. Ich finde, das ist das Wichtigste überhaupt. Und wenn ich sehe, dass dich etwas bedrückt, du aber sagst, es wäre nichts, kommt das einer Lüge gleich. Ich habe nicht die Chance dir zu sagen, dass... dass ich mich in dich verliebt habe. Und dabei würde ich das zu gern tun.«
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