1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Das bremste Goram, einen Moment lang blickte er sogar verblüfft drein. „Ach wirklich?“, brummte er. „So schlimm steht es? Woher weißt du das?“
„Glaub mir, ohne guten Grund würde ich meine Arbeit nie unterbrechen – du weißt, was mir dieser Xatos bedeutet“, sagte Jerusha etwas besänftigt.
Der Erste Baumeister grinste verschmitzt. „Ja, Mädel, und seit gestern weiß ich auch wieso. Immerhin hast du dich nicht in einen hässlichen Gnom verguckt, das hätte nicht gepasst.“
Jerusha stöhnte. Also war die Ähnlichkeit schon gestern einigen aufgefallen, wie peinlich. Aber das war wohl nicht zu verhindern gewesen, Kiéran hatte sie gewarnt.
Für Goram war das Gespräch anscheinend beendet, er schlug ihr auf die Schulter, brummte ein „Cerak leite dich!“ und ging wieder an die Arbeit.
Das war ja nochmal glimpflich ausgegangen. Allerdings war Jerusha noch nicht klar, wovon sie in der Zeit, in der sie unterwegs war, ihre Familie ernähren sollte – einen Lohn würde sie natürlich nicht erhalten, ihre Mutter verdiente als Wäscherin wenig und Liri sollte auf keinen Fall die Schule hinwerfen, um eine Arbeit anzunehmen. Natürlich, Kiéran ist nicht arm, schließlich stammt er aus einem einflussreichen Clan , ging es ihr durch den Kopf. Aber ich würde ihn niemals darum bitten, mir Geld zu geben, das wäre zu demütigend. Wie hatte Kiéran es bei ihrer ersten Begegnung ausgedrückt? „Ich glaube, Ihr leidet an der gleichen Krankheit wie ich – zuviel Stolz.“ Ja, das stimmte, und sie kannte keine Heilung dafür.
Jerusha arbeitete besonders hart an diesem Tag, um auszugleichen, dass sie ihre Arbeitsgefährten schon bald im Stich lassen würde. Völlig erschöpft ritt sie lange nach Sonnenuntergang auf Louc, den sie von Kiéran geliehen hatte, nach Hause.
Am liebsten hätte sie sich gleich ins Haus geschleppt, doch das ging nicht, erst musste sie sich um die Nachtlilien kümmern. Alle paar Tage brauchten sie Wasser mit einer Prise Asche als Dünger darin, damit sie keine welken Stellen bekamen. Also ritt Jerusha gleich weiter zum Hof ihrer Familie, einem niedrigen, aus Feldsteinen gemauerten Gebäude. Dort brannte anscheinend ein Feuer im Kamin, und Jerusha sog die klare, kalte Luft ein, die nach Holzrauch roch.
Doch dann hörte Jerusha ein sausendes, zischendes Geräusch, das hinter dem Hof hervordrang, und wusste Bescheid. Sie schwang sich von Louc, kam hart auf den Boden auf, hetzte los, stolperte über den Grenzstein neben der Straße, fand ihr Gleichgewicht wieder, rannte weiter. Hoffentlich kam sie noch rechtzeitig! Atemlos umrundete sie den Hof, und tatsächlich, hinter dem Haus stand gerade ein Mann, ließ mit wutverzerrtem Gesicht einen Stock durch die Luft pfeifen und wollte ihn gerade auf die Nachtlilien niedersausen lassen. Ihre Nachtlilien!
„Halt!“ brüllte Jerusha, und weil sie wusste, dass das normalerweise nicht viel nützte, rannte sie einfach weiter. Als sie zwischen dem Fremden und ihren Lilien stand, griff sie mit beiden Händen nach dem Stock und zerrte daran. Verbissen rangen sie um das Stück Holz.
„Was soll das?“, keuchte der Mann halb wütend, halb verblüfft. „Lass los, du miese Viper!“
Jerusha hatte nicht die Absicht, das zu tun. „Warum wolltet Ihr auf die Blumen einschlagen?“, schoss sie zurück. „Ghalils Schande, die haben Euch nichts getan!“
Es wirkte, der Kampfgeist wich aus dem Fremden und er lockerte unwillkürlich seinen Griff. Mit einem Ruck riss Jerusha ihm den Stock weg. Nun wirkte der Fremde ein wenig verwirrt, so als wisse er selbst nicht mehr so recht, warum er eigentlich hier sei. „Warum?“, wiederholte er und runzelte die Stirn. „Nun…“
„Ja, genau“, sagte Jerusha kampflustig. „Warum wolltet Ihr das tun?“
Sie erwartete keine Antwort. Es kam nie eine, die auch nur annähernd Sinn machte.
„Shani, bist du das?“ Schnelle Schritte näherten sich, und Liriele, ihre jüngere Schwester, bog leichtfüßig um die Ecke, über der Schulter wie so oft den Bogen. Hoch aufgeschossen und schlank stand sie im Gegenlicht, das aus den Fenstern des Hofs fiel. Obwohl sie sonst so übermütig war wie ein Fohlen, erkannte sie sofort den Ernst der Lage. In einer einzigen fließenden Bewegung nahm sie den Bogen von ihrer Schulter, nockte einen Pfeil auf, spannte die Sehne und zielte auf den Fremden. „Besser, Ihr verschwindet – und lasst Euch nie wieder hier sehen!“
Erschrocken murmelte der Mann einen Protest und machte gleichzeitig einen Schritt nach hinten, dann noch einen und noch einen. Er verschwand hinter der Hütte, und sie hörten, wie er sich hastig entfernte.
Liri strich sich eine kurze, blonde Strähne aus der Stirn. Ihre Haare waren noch feucht vom Waschen. „Oh, Shani, schon wieder einer. Kann es sein, dass es mehr werden?“
„Scheint fast so“, sagte Jerusha. „Danke, Liri, du bist genau zur rechten Zeit gekommen.“
Sie überprüfte, ob ihren Nachtlilien etwas geschehen war. Zum Glück hatten sie nur ein paar Blätter verloren – das, was geknickt am Boden lag, war hauptsächlich Gras. Die zwölf handlangen, in einem dunklen Violett schimmernden Blüten waren unversehrt, und ihr herrlicher Duft, den sie nur nach Einbruch der Dunkelheit verströmten, stieg Jerusha in die Nase. Es ist ein Duft, der nicht von dieser Welt ist. Das ist sicher auch der Grund, warum manche Leute die Nachtlilien hassen, ohne selbst zu wissen wieso! Die Feindschaft zwischen Menschen und Eliscan geht tief.
„Komm, wir gehen wieder rein“, sagte Jerusha und lächelte ihre Schwester an, die noch immer den Bogen hielt. Liri hatte das Talent der KiTenaros geerbt – ihr Clan hatte schon viele berühmte Bogenschützen hervorgebracht. „Warum wartest du mit dem Üben nicht, bis deine Haare trocken sind? Brauchst du gerade eine Erkältung?“
Liri verdrehte die Augen. „Führ dich nicht auf wie Mama!“
„Fängt das jetzt an mit den Widerworten?“ Jerusha knuffte ihre kleine Schwester. „Alle haben mich gewarnt, dass Kinder in diesem Alter grauenvoll frech werden.“
„Gute Idee“, meinte Liri heiter, und sie gingen zusammen ins Haus; Jerusha wollte kurz ihre Mutter Myrial begrüßen. Doch auch diesmal war das keine angenehme Erfahrung, ihre Mutter beachtete sie kaum. Ihr Blick war teilnahmslos, ihr Gesicht blass, ihre dunklen Locken stumpf – für sie hatte sich nicht viel geändert dadurch, dass der Fluch aufgehoben war. Es ließ sich ja nicht mehr rückgängig machen, dass sie unter dessen Einfluss versucht hatte, ihren Mann – Jerushas Vater Josuan – zu töten.
Schon nach kurzer Zeit im bedrückenden Schweigen sagte Jerusha „Ich gehe dann mal wieder“, denn es war spät, sie hatte bohrenden Hunger und die beiden hatten längst gegessen. Zum Glück hatte wenigstens Kiéran auf sie gewartet. Er hatte mit Kräutern eingeriebenen Lammrücken und Pristanbohnen gekocht, die Hälfte hatte er vorhin bei ihrer Familie vorbeigebracht. Für beides bekam ihr Gefährte einen dankbaren Kuss.
„Es war ziemlich knapp mit den Nachtlilien vorhin“, erzählte Jerusha ihm, während sie ihren Anteil vertilgte. „Wieder jemand, der sie zerstören wollte.“
„Verdammt“, entfuhr es Kiéran.
„Liri hilft mir dabei, sie zu hüten“, versicherte ihm Jerusha. Sie wusste, dass Kiéran diese Blumen inzwischen fast so viel bedeuteten wie ihr selbst.
Kiéran nickte und wechselte das Thema. „Morgen ist Jilderstag, da ist in Mandeth Pferdemarkt, habe ich gehört. Ich würde vorschlagen, wir gehen hin, du brauchst endlich wieder ein eigenes Pferd.“
Jerusha ließ die Gabel sinken, ihr war der Appetit vergangen. Das stimmte, ohne Pferd konnte sie eine solche Reise wie die mit dem Eliscan-König nicht antreten – nur Geld hatte sie leider kaum noch. Werde ich die letzten meiner Skulpturen, die ich selbst besitze, verkaufen müssen?
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