„Schatz, darf ich morgen Abend mit meinen Freunden auf ein Bier gehen?“, hörte ich ihn leise sagen.
„Nun, wenn Du Deine ganze Arbeit getan hast und ich mich freimachen kann, dann vielleicht“, würde ich großzügig, ausweichend antworten, denn wenn ich ihm den kleinen Finger reichte, indem ich sofort zustimmte, dann würde er das nächste Mal gleich die ganze Hand wollen. So blieb er dankbar. Das war meine Option. Es war ausgemacht. Doch was studierte Frau um sich solch einen Lebenstraum erfüllen zu können? Da gab es wohl auch nur eine Wahl, Betriebswirtschaft, genauerhin, Internationales Management. Da war sie also, meine Entscheidung, und ich wollte keine Minute verstreichen lassen sie kundzutun.
„Das ist also mein Plan“, verkündete ich beim gemeinsamen Abendessen meinen Eltern, die darüber überglücklich waren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
„Sehr gut“, meinte mein Vater, „Endlich mal jemand, der was Brauchbares studiert, auch wenn ich bezweifle, dass alles so aufgeht, wie Du Dir das in Deiner jugendlichen Blauäugigkeit so vorstellst.“
„Und dann macht es auch nichts aus, dass Du für den Haushalt völlig ungeeignet bist“, ergänzte meine Mutter, wobei eine gewisse Erleichterung in ihrer Stimme mitschwang. Dieser Vorteil war mir bis jetzt nicht wirklich bewusst geworden, doch ich musste ihr recht geben. Eine erfolgreiche Businessfrau, wie ich eine sein würde, muss sich nicht mit so Kinkerlitzchen wie Wäsche waschen oder bügeln oder kochen aufhalten. Für solch mindere Tätigkeiten hatte man minderbemittelte oder zumindest minderqualifizierte Kräfte, wie sie sich z.B. in der Person eines Ehemannes finden könnte. Da eröffneten sich ganz neue, weite Perspektiven. Mein Plan gefiel mir immer besser. Aber zunächst würde ich mich mental auf das Kommende vorbereiten. Zwei Monate noch bis zum Beginn des nächsten Semesters. Zwei Monate, die ich mich ungestört dem Malen widmen könnte, bevor das Leben richtig begann. Dann wäre es vorbei mit diesem Firlefanz, aber wer braucht das schon.
„Sag mal, kannst Du das nicht mal wegtun“, riss mich meine Mutter aus meinen Tagträumen, „Das macht mich ganz nervös.“
Jetzt erst bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit über mit dem kleinen Gegenstand gespielt hatte, der mir in der Au vor die Füße gefallen war. Wo er wohl hergekommen war? Niemand war weit und breit zu sehen gewesen. Er war mir einfach vor die Füße gefallen. Einfach so. Oder war er schon die ganze Zeit da, und er war mir erst so spät aufgefallen. Unscheinbar war er, wie ich feststellte, als ich ihn zum ersten Mal richtig betrachtete. Es handelte sich um einen kleinen, metallenen Schlüssel. Es musste ein altmodischer sein, so wie man sie früher zu verwenden pflegte, denn er hatte noch einen Bart und der Griff war herzförmig. Unwillkürlich musste ich an die Geschichte denken, die mir meine Großmutter immer und immer wieder erzählt hatte.
„Eines Tages“, so pflegte sie zu enden, wenn sie ein Resümee über ihr Leben zum Besten gab, „wirst auch Du diesen Schlüssel finden, der zum Herzen des einen Menschen passt, der Dein Glück bedeuten wird. Aber gib acht. Du kannst ihn nicht passend machen, so sehr Du es auch in der Ungeduld der Jugend wünschst. Besser ist es abzuwarten, aber dann wird es der Himmel auf Erden sein.“
„So ein Unsinn“, pflegte ich zu erwidern, „So etwas gibt es bestenfalls im Märchen oder in billigen Schundromanen.“
„Und warum willst Du es dann immer wieder hören?“, fragte meine Großmutter ebenso regelmäßig.
„Weil Du es so gerne erzählst und ich nun mal ein gut erzogener, höflicher Mensch bin“, entgegnete ich unbeirrt. Und während sie mir noch eine weitere Tasse Kaffee einschenkte wussten wir beide, dass es nicht stimmte. Lächelnd überging sie meinen Einwand. Es war schon beinahe so etwas wie ein Ritual geworden.
„Hast Du so einen Menschen gefunden, ich meine, bei dem der Schlüssel passte?“, fragte ich nur ein einziges Mal. Ich erinnerte mich, dass mir die Frage doch ein klein wenig peinlich war. Sie ließ mich vor meinen Augen so schwach erscheinen.
„Es war mein zweiter Mann gewesen“, entgegnete sie sanft. Das war alles. Es musste schon etwas Besonderes gewesen sein, doch das behielt ich für mich.
Während ich nun diesen kleinen Schlüssel in meiner Hand betrachtete fiel mir ein, dass ich meine Großmutter nie gefragt hatte wie er denn aussah, dieser Schlüssel. Jetzt war es zu spät, denn sie hatte mich vor einem Jahr verlassen um ihrem Mann nachzufolgen, in diese andere Welt, von der wir nichts wissen. Ich hielt es auch nicht für ratsam sie zu fragen, denn damit hätte ich automatisch eingestanden, dass ich doch daran glaubte, ein wenig zumindest. In meiner Vorstellung war er immer goldglänzend gewesen. Aber dieser Schlüssel in meiner Hand, der war zwar aus Metall, aber weder golden noch glänzend. Eigentlich war er schrecklich unscheinbar, abgenutzt und unansehnlich. Dennoch fesselte er mich. Könnte vielleicht doch etwas dran sein, an der Geschichte?
„Was ist das überhaupt?“, riss mich meine Mutter unvermittelt aus meinen Gedanken.
„Nichts, nichts, bloß etwas, was ich gefunden habe“, beeilte ich mich zu erwidern, um ihn ganz schnell in meiner Tasche verschwinden zu lassen.
„Komm, gib her, ich schmeiß es weg“, erbot sich nun meine Mutter, die wohl Angst um ihre Waschmaschine bekam, denn wenn ich den Schlüssel – wie es mir immer wieder mit allen möglichen Gegenständen passierte – in der Hosentasche ließe, dann würde das ihrem wichtigsten Haushaltsgegenstand womöglich Schaden zufügen.
„Es geht schon. Das schaffe ich ganz alleine. Ich bin ja jetzt schon ein großes Mädchen“, erklärte ich augenzwinkernd.
„Dass Du auch niemals ernst sein kannst und immer alles lächerlich machen musst“, konnte sich meine Mutter nicht verkneifen hinzuzufügen. Aber dann war sie auch schon wieder damit beschäftigt den Tisch abzuräumen, während mein Vater es sich mit der Zeitung gemütlich machte. Genau so würde es bei mir auch sein, schwor ich mir selbst in diesem Moment, bloß umgekehrt. Da würde ich Zeitung lesen und mein Mann sich um ein gepflegtes Heim kümmern. Mein Plan gefiel mir wirklich ausnehmend gut. Nur den Schlüssel, den schloss ich sicherheitshalber in einer Schatulle ein, denn auch wenn an dieser Geschichte nichts dran sein konnte – wer glaubt schon solch einen Unsinn – so war es doch ein netter Gag ihn aufzubewahren.
„Was nicht passt, kann auch nicht passend gemacht werden“, hörte ich die Stimme meiner Großmutter ganz deutlich in jener Nacht, da ich mich gerade in dieser Übergangsphase zwischen Wachen und Schlafen befand. Es war mir manchmal, als hätte ihr Tod wenig an unserem Miteinander verändert. Sie war nicht mehr physisch um mich, aber sie war es in meinen Gedanken. Über viele Jahre hinweg war sie meine engste Vertraute gewesen, vor allem wenn die Spannungen zwischen meiner Mutter und mir am größten waren. Meine Großmutter war einfach da für mich, wenn ich im wahrsten Sinne des Wortes zu ihr flüchtete. Sie urteilte nicht und redete mir nichts ein. Sie war einfach da und hörte zu. Nichts weiter. Manchmal, da saßen wir einfach da und sagten gar nichts, und doch fühlte ich mich frei und angenommen, in ihrer bloßen Präsenz. War das vielleicht auch ein Teil des Geheimnisses?
„Wie meinst Du das?“, fragte ich hinein in das Gehörte zwischen Wachen und Schlafen.
„Du kannst es nicht zwingen“, antwortete sie sanft, „Vielleicht denkst Du es passt, weil Du es unbedingt möchtest, weil Du müde bist und endlich ankommen willst, weil Du willst, dass es dann so weit ist, wenn Du Dir das einbildest, aber es wird dann sein, wenn Du es nicht mehr mit aller Unbedingtheit möchtest, dann, wenn Du am wenigsten damit rechnest. Es wird dann sein, wenn Du den Gedanken daran loslassen und frei sich entfalten lassen kannst. So lange Du es so sehr willst, dass Du Dich und andere verbiegst, ist es nicht das Richtige.“
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