Alle lachten, Selma meinte, „lass ihm die Fußlappen, Ella.“
In der Stube zwängten sich die Kinder auf die Couch hinter dem Tisch, der dünne Schimmelrogge ebenfalls. August saß am Kopfende des Tisches im Winkel zu Schimmelrogge und machte es sich im Sessel behaglich: „Ist immer wieder schön, zu Hause zu sein und in der gemütlichen Stube zu sitzen.“
Wem sagste das“, antwortete Schimmelrogge, „wenn ich da an Alkansas denke. Man darf es nur nicht mit den russischen Lagern vergleichen, das ist klar.“
Selma hielt sich die Ohren zu und senkte den Kopf, Ella erkannte die Situation und wollte das Gespräch abblocken. Sie hielt den Männern den Korn hin: „Hier, das ist doch speziell was für euch. Na, 'n Schnäppsken noch vor'm Kaffe?“
„Die Gefangenschaft, ja, ja, man vergisst sie nicht", sagte Schimmelrogge, nachdem August und er auf Ellas Angebot nickend eingegangen und den Schnaps wie Seelenbalsam hinuntergekippt hatten. „Es war zwar nicht so schlimm bei den Amis wie bei den Bolschewiken, aber Schnaps gab's nur, wenn wir ihn selbst organisiert hatten, und war dann dementsprechend teuer.
Man trank auf Augusts Wohl, und auch diesmal waren die Männer schneller als die Frauen, die noch das Thema für ein Gespräch nach ihrem Geschmack gesucht hatten.
„Tja die Amis, das sind schon Typen“, sagte Walter. Dass muss ich noch erzählen von drüben, wir sind mal mit dem Zug unterwegs gewesen, ich weiß den Anlass gar nicht mehr. Es war nachts, und nur wir durften in den Schlafwagen, die Bewacher nicht. Und morgens dann war Halt in einem Kaff an der Eisenbahnlinie. Weiß nicht mehr, wie es hieß. Wir wurden in ein Lokal geführt, wo es Frühstück gab. Nur für uns, die Bewacher durften auch hier nicht mit rein. Du weißt, weshalb?“
„Sicher“, antwortete August, „waren Neger.“
„Tja die Amis, das sind schon Typen, halten alle Kriegsrechtskonventionen ein, sind diejenigen, von denen wir die Demokratie haben und von denen uns das ganze neue Zeug über den Ozean schwappt, aber ihre Neger sind für sie das geblieben, was sie immer für sie waren.“
Beide schüttelten sich vor Lachen.
„Über so was kann man nur lachen, wenn man selbst nicht richtig ist im Kopf wie du“, ärgerte sich Selma und schaute nur ihren Mann grimmig an, als wäre er der einzig Schuldige an dem ihr verhassten Gesprächsthema.
"Es geht ja noch, wenn es bei solchen Geschichten bleibt“, wandte sich Ella den beiden Frauen zu, als sie sah, dass die Männer gar nicht daran dachten, ihr Thema zu wechseln. „Kommt“, sagte sie, „lasst die beiden reden, was sie wollen, ist doch nicht zu vermeiden. Wir halten uns an den Frankfurter Kranz, den hat Luise mit guter Butter gemacht und dazu echten Bohnenkaffe. Na wenn das nichts ist.“
Aber das laute Gespräch der Männer erreichte dennoch die unwilligen Ohren der Frauen. So versuchten sie erneut, ein anderes Thema aufzubringen, und jedes Mal versiegte es, bevor es richtig in Gang gekommen war. Das Gespräch der Männer hingegen festigte sich und floss munter dahin, wenn auch nur zwischen ihnen. Walter erzählte von Erlebnissen eines Freundes, Alfred Schmeirich aus Isenbüttel, der in Frankreich in Gefangenschaft war. August kannte ihn schon von Walters Geburtstagen her.
„Da ging bei denen die Fremdenlegion im Lager ein und aus, und weißte, auf welche Leute die aus waren?“
„Waffen-SS“, sagte August, hab' ich schon von gehört.“
„Genau, die wurden richtig umgarnt, Zigaretten, Essen und so weiter.“
„Ob diese Nazis sich anwerben ließen? Hat Alfred da was mitgekriegt?“
„Weiß nicht. Kannst ihn selbst fragen, er ist ab Montag bei uns im Trupp, hab's von Schetter. Aber sicher ist, dass er und die andern sich damals ganz minderwertig vorkamen, so als zweite Wahl. Ja das hat sie richtig schlimm gewurmt, dass diese stolzen Laffen von der SS trotz aller Kriegsverbrechen jetzt wieder die Elite war.“
„Die Fremdenlegion hat ihre eigenen Maßstäbe“, meinte August, „und Recht ist nicht immer das, was wir unter Recht verstehen. Nimm nur die Genfer Konventionen. Versteht man nicht, wieso Offiziere in Gefangenschaft vom Arbeitseinsatz befreit sein sollten. Das hieß auf deutsch, die Befehlsempfänger im Krieg sollten nach dem Krieg mehr leiden als die Befehlshaber.“
„Wenn man mal davon absieht, dass die Kapitulation für viele deutsche Offiziere das Schlimmste überhaupt war, was ihnen passieren konnte“, wandte Walter ein. „Nicht wenige haben sich umgebracht. Einer fast vor unserer Haustür. Montgomerys Hauptquartier Lüneburger Heide. Von Friedeburg mit seiner Delegation. Mittags. Ein Zelt, wo man separat für die Deutschen gedeckt hat. Von Friedeburg weint beim Essen. Danach unterzeichnet er die Teilkapitulation und bringt sich dann um.“
„Das mit dem Selbstmord war aber später“, korrigierte August. „Hat erst noch bei Eisenhower in Reims mit unterschreiben müssen, neben Dönitz und Jodl, erst danach hat er sich umgebracht.“
„Ja richtig, jetzt erinnere ich mich. Aber bleiben wir bei den Offizieren im Allgemeinen. In Gefangenschaft brachte ihnen ihr Stand als General Vorteile, der eine Vorteil zog den anderen nach sich. Weil sie nicht arbeiten durften, wurden sie früher nach Hause geschickt. Unnütze Esser wie die Schwachen und Kranken, die auch früher nach Haus kamen.“
„Die Generäle wurden aber nur bei den West-Alliierten nach Hause geschickt“, ergänzte August, „in Russland wurden sie schikaniert und dann ab '49, als die Rücktransporte nach Deutschland begannen, massenhaft zu Kriegsverbrechern abgeurteilt.“
„Richtig, da hat es ja auch die einfachen Soldaten erwischt mit Gründen, die an den Haaren herbeigezogen waren, grausam, ich denke nur an Hermann, der ...“
„Bei den Rücktransporten '49“, unterbrach August die Abschweifung zum verhassten Schwager“, wurden in Königsberg aus einem Zug voller Heimkehrer mehr als hundert Offiziere wieder rausgeholt und zurückgeschickt. Muss man sich vorstellen, die hatten die Heimat schon vor Augen.“
„Ja und die Schuld am Krieg auf dem Gewissen“, mischte sich Selma ein, "diese Aktion ist für mich so eine Art höhere Gerechtigkeit.“
Die Männer wollten es weder bestätigen noch dementieren, in ihren gemischten Gefühlen vermieden sie den Blickkontakt mit den Frauen.
„Und dass die Sieger überall die Kranken und Schwachen nach Hause gelassen haben, auch“, sagte Ella, „das war auch gerecht“. Beiläufig fügte sie hinzu, ohne durch ihre gleichgültige Miene zu verraten, wie sie es meinte: „Der Hermann war nicht dabei.“
„Weil der nicht krank und schwach war“, sagte August, „das Wasser, das der im Körper hatte, hat sich langsam angesammelt, wie bei fast allen Gefangenen.“
"Und viele Heimkehrer hatten es, darum sahen die gar nicht so mager aus, wie man sie sich vorgestellt hatte“, ergänzte Ella, „das hat Dr. Schwerner uns erzählt, der Arzt aus der Bodemannstraße, der einmal in der Woche nach Bokel kommt und nach seinen Patienten sieht. Nachdem, was ihr so erzählt, hat der Hermann ja Pech gehabt, dass er sechs Jahre früher gesund war, sonst wäre er schon viel früher wieder zu Hause gewesen, so wie ihr beide“.
Auch diesmal konnte man nicht entnehmen, ob sie sich über diese frühere Heimkehr Hermanns gefreut hätte oder nicht.
„Ob das Pech war?“, zweifelte Walter an, „was hat die frühere Heimkehr denen genützt, die unheilbar krank aus der Gefangenschaft entlassen wurden, und das war doch ein großer Teil. Manche haben sich vorher richtig geschädigt, mutwillig. Weil sie hofften, dann beim nächsten Transport in die Heimat mit dabei zu sein. Die haben konzentriertes Salzwasser getrunken und sich die Mägen verätzt, oder andere schlimme Sachen gemacht. Frag mal nach, wie viele von denen noch leben. Viele sind schon gleich im Lager gestorben. In Russland passierte das hauptsächlich, da war ja alles Schlimmer als bei den West-Alliierten. Auch, wenn man diese ganzen Aburteilungen der Offiziere mal außen vor lässt. Die du als Weltgerechtigkeit siehst“, wandte er sich zum Schluss direkt an seine Frau, sein Tadel wirkte aber wenig überzeugend.
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