1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Aber war sie denn wirklich unglücklich? Sie gestand sich ein, dass sie sich nicht richtig vorstellen konnte, was das war. Man konnte schlecht sein, was man nicht kannte, also war sie nicht unglücklich. Bequemer hätte sie es gehabt ohne Hermann. Wirklich? Wohl doch nicht, er machte ja alles zu Hause, was schwer und unbequem war. Aber hatte eben seinen eigenen Kopf. Das störte. Aber letztlich kam es doch immer so, wie sie es haben wollte. Also bequemer oder leichter hätte sie es nicht gehabt ohne ihn. Wenn sie also nicht unglücklich war, es nicht leichter gehabt hätte ohne ihn, was war dann? War sie vielleicht doch glücklich? Sie gestand sich ein, dass sie sich auch diesen Zustand nicht richtig vorstellen konnte. Man konnte nicht sein, was man sich nicht vorstellen konnte, also war sie nicht glücklich. Wenn nicht, wieso nicht? Sie hatte doch alles, die Mutter, Luise, den Jungen, war gesund, hatte zu essen, eine gemütliche Wohnung, deren Fenster, im Sommer weinumrandet, nach zwei Seiten hin den Blick frei gaben auf das schöne Dorf, im Winter aus der warmen Stube auf verschneite Häuser und die Dorfstraße, was sie besonders liebte. Und sie hatte immer wieder schöne Ziele: Lavabel für ein Sommerkleid, zweiteilig, wie man es jetzt trug, Trägerkleid mit Bolerojäckchen, taubenblau mit weißen Tupfern, oder besser in weinrot, rot stand ihr noch besser als blau. Und dann die Kammer für den Jungen. Platz im eigenen Kleiderschrank, Platz für das neue Kleid. Ziele, die erfüllbar waren, ja, sie hatte alles! Hermann gehörte irgendwie dazu, also nahm sie ihn dazu, und so ungern auch nicht, schließlich war er doch ganz nützlich. Sie konnte zufrieden sein, und war es eigentlich auch, ja, sie sollte es zugeben: sie war es, sie war glücklich. Wie schön! Das könnte doch was sein, mit „de leve Herrgott“, auch für sie.
Die Bäuerin beendete ihren Eintrag in das Mietbuch und holte Ella in die Gegenwart zurück: „Hier, Ella, steck dat Schrieven mol in un de Antrag dotau, dien Kierl schall do glicks rinnkieken un utfüllen un dat“, sie klopfte mit ihrem dicken verarbeiteten Zeigefinger auf den Antrag, „denn wedder tröch to mick.“
„Ja, das Geld, es kommt sozusagen auf die hohe Kante. Der Hermann will davon keinen einzigen Pfennig ausgeben für Konsum und Miete, soll sozusagen der Notgroschen sein für die Familie.“
„Bi de veelen Johr in Gefangenschaft is de Notgroschen scheun grot“, sagte die Bäuerin und lächelte wohlwollend.
Wenn Hermann davon was abzwacken würde, könnten wir die Kammer dazumieten, die vorn an der Diele, die ihre gerade ausbaut. Die wäre was für Tommi, der wird ja bald dreizehn. Aber so reicht das Geld nicht.“
„So, so! Jo, de Komer. Da mött unner de Fööt noch de Bretter, Vaputz is ook no nich und de Pinsel mött noch öwer de Finsterrahmen.“
Sie strich mit der Hand übers Kinn, überlegte: "Dat künn dien Kierl sülmst mooken.“
„Ja was kostet die denn so, wenn wir das selbst machen?“ fragte Ella.
„Mött ierst mit mien Kierl dröwer snacken, awers ick snack so mit em, dat ji nich veel tau betohlen hebbt, villecht acht Mark. Is scheun, de Komer, und dat Finster kickt no de Strote hin.“
Den Weg nach Hause dachte Ella über das Gespräch mit der Bäuerin nach und überlegte kurz, wo die wohl abgeblieben sein sollten, die Nazis, was Hermann auch immer wieder mit großem Verdruss ansprach. Die freundliche Bäuerin zählte ihre Familie und sich offensichtlich nicht zu den einstigen Nazis und ihren Anhängern, oder besser gesagt, die Kuhlmann zählte ihre Familie nicht zu denen, die sich verantwortlich hielten für die Nazizeit und ihre Folgen. Andere ja auch nicht, dachte Ella, ihr fiel auch niemand ein, der sich hier in der Schuld sah, da hatte Hermann ja durchaus recht mit seinen Hassausbrüchen gegen die Abgetauchten.
Aber es war nur ein kurzer Gedanke, mehr beschäftigte sie die Sache mit der ausgebauten Kammer. Sie überschlug ihre monatlichen Ausgaben. Zur Zeit bezahlten sie 25 Mark für die drei zusammenhängenden Räume, und das war schon an der Grenze. Hermann verdiente 155 Mark 29 nach Abzug, damit kamen sie gerade so hin, weil sie jedes Jahr selbst ein Schwein durchfütterten, eine Ziege für Milch hielten, Hühner und Kaninchen im Stall und alles Gemüse im Garten hatten. Pullover, Unterwäsche und Strümpfe strickte sie mit ihrer Mutter ja selbst, und Kleidung, die die Mutter nicht selber nähen konnte, wurde nur zu Weihnachten, Ostern oder mal zum Geburtstag angeschafft. Einmal in der Woche fuhr sie zum Konsum nach Gifhorn, da die Lebensmittel dort billiger waren als hier im Dorf. Und doch trug sie zwischendurch zu viel Geld zu Kleimers. Die acht Mark waren beim besten Willen nicht aufzubringen.
Auf der großen Diele schielte sie zu der Tür hin, hinter der sie die unerreichbare Kammer wusste. Sie stellte sich vor, was es für Platz in ihrer Kammer gäbe, wenn Tommis Bett da raus wäre. Platz für eine Kommode für Unterwäsche, Pullover und so. In Gedanken suchte sie schon Tommis Sachen aus den überfüllten Fächern des Kleiderschrankes zusammen und räumte sie in eine neue Kommode, die für das neue Zimmer anzuschaffen sei. Und wo Tommis Bett stand, war Platz für eine Kommode für ihre Sachen, so dass im Kleiderschrank richtig viel Platz sein würde für neue Sachen. Oder die neuen kämen in die Kommode und die alten blieben im Schrank.
Wie auch immer, sie bekäme Platz für neue Sachen und das machte sie glücklich, auch wenn die neuen Sachen noch warten müssten bis nächstes Jahr, dann ging Tommi in die Lehre und sie könnte wieder arbeiten gehen und von ihrem Geld die neuen Sachen kaufen und die Kammermiete zahlen. Und glücklich machten sie auch die Überlegungen, wie das mit den Kommoden und dem Zimmer für Tommi dann für sie finanziell klein zu halten wäre. Die Kommoden könnte Erwin machen, der Tischler im Dorf, ein Schulfreund von Hermann, mit den gleichen damaligen Problemen wie Hermann, und davongekommen wie Hermann, Erwin würde einen Sonderpreis machen, auf alle Fälle. Die Kommoden könnten schlicht sein, die für Tommi kleiner, ihre größer, vielleicht vier Laden, fünf wären wohl übertrieben, oder doch nicht? Nein, zu hoch, das sieht komisch aus, dann lieber in die Breite. Mutter würde was zugeben, und die Kommoden würden ja auch hintereinander bestellt werden, vielleicht bezahlt Mutter Tommis Kommode ganz, für den Jungen gibt sie ihr letztes Hemd. Vielleicht zahlt sie auch für die Kammer die Miete mit, vielleicht zur Hälfte …
Dann entsann sie sich, dass es nächstes Jahr zu spät sein würde für die Kammer, Kuhlmanns würden sie sicher an die Bachmanns vermieten, die Bachmann wartete doch nur darauf. Nein! Sie muss hier und jetzt sehen, wie sie an die Kammer kommt, muss sich unbedingt was überlegen. Hermann müsste was von der zu erwartenden Entschädigungssumme abzweigen.
Bakeberg hatte immer große Mühe, ungeeignete Leute wieder loszuwerden. Wenn Grummet ihm morgens einen frisch Eingestellten zuführte, sah er auf den ersten Blick, ob dieser zumindest annähernd den Gegenwert dessen einbringe, was ihm in die Lohntüte gesteckt werden müsse. Bakeberg war drei Jahre jünger als Hermann Sünders, Jahrgang 1920. Unter vier Augen gab er Grummet seine Einschätzung. Wenn es eine negative Einschätzung war, stand er hinterher im Zwiespalt seiner Interessen. Einerseits war es später immer ein kleiner Triumph, richtig gelegen zu haben, andererseits hoffte er bezüglich der zu bewältigenden schweren Arbeit des Trupps, doch falsch gelegen und endlich mal wieder einen wirklich tüchtigen und kräftigen Mann bekommen zu haben, so wie damals, als Littmann und etwas darauf Sünders eingestellt wurden. Bei beiden wusste er gleich, dass was Handfestes kam, man sah beiden an, dass sie zupacken konnten und wollten.
Die beiden schlimmen Vorfälle zwischen ihnen, die zur schriftlichen Verwarnung geführt hatten, hatte er nicht verheimlichen können, Littmann blutete, und die Verantwortung für eine eventuell tiefere Verletzung hatte er nicht übernehmen wollen. Und er hatte es nicht riskieren wollen, von Grummet oder sogar Duderstadt auf eine Sache angesprochen zu werden, die diese nicht von ihm, wie es sich gehört hätte, sondern von Dritten erfahren hatten. Und Duderstädters Faible, über jeden Einzelnen, der bei der Stadt arbeitete, unabhängig von dessen beruflichen Status, unterrichtet zu sein, kannte er ja. Er musste sich das volle Vertrauen Duderstädters erhalten, der machte ja schon Schulungen, wollte ein paar Stufen höher kommen, und würde seine Leute mitziehen.
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