»Wer ist der alte Sack, der gerade aufgestanden ist?« Ein älterer Zauberer hatte sich von der Tafel erhoben und richtete sich zu beachtlicher Höhe auf. Sein wallender Bart ließ nicht viel vom Gesicht erkennen, außer einem heiteren Lächeln und ein paar lebhaften hellblauen Augen.
»Keine Ahnung. Könnte mir vorstellen, dass ...«
»Das ist Professor Schwurbelbart«, fiel ihm das Mädchen namens Lärmine Danger ins Wort. Sie hatte ihr Gespräch mit den Haferstrohs unterbrochen und beobachtete ebenfalls neugierig den Lehrertisch. »Über den hat kürzlich was in der ›Bravo‹ gestanden. War, glaube ich, in irgendeinen Skandal in der Groupieszene verwickelt.«
»Danke«, brummte Rum unwillig. »Ich ...«
»Sieht lustig aus, mit seiner Kinderbrille, nicht?«, unterbrach Lärmine erneut. »Ob er die aus der Kinderkollektion von Stiehlmann hat?«
»Ich wollte ...«, setzte Rum neu an.
»Und erst der Hut. Der ist bestimmt von Boys 'r us«, kicherte sie leise und zog die Nase kraus. »Seht mal, mit dem Bart sieht er aus, als hätte er einen Fußsack unterm Kinn. Und die Nase! Der Riesenzinken steht ihm im Gesicht, wie eine Spitzhacke im Scheunentor.«
»Ich ..., ich geb 's auf«, resignierte Rum.
»Keine Chance«, grinste Heinrich belustigt.
Schon hatte sich Lärmine wieder von ihnen abgewendet und unterhielt erneut mit lauter Stimme den Nebentisch.
Professor Schwurbelbart hatte sich unterdessen hinter der Lehrertafel herausgewurstelt und kletterte auf die Bühne. Er trat hinter ein darauf platziertes Rednerpult und klopfte ein paarmal gegen ein bereitstehendes Mikrofon. »Eins zwo, eins zwo, Soundcheck,« säuselte er hinein und richtete sodann das Wort an seine Schüler. Es wurde still im Saal.
»Hallo, zusammen. Mann, lange nicht mehr so viele Gören auf einem Haufen gesehen. War eine ruhige Zeit in den letzten Wochen. Naja, alles Schöne geht mal zu Ende.« Er räusperte sich und fuhr fort. »Wie an jedem ersten Sonntag im September haben wir heute viele neue Schüler unter uns. Es entspricht der Tradition, dass ich, bevor wir uns über das Abendessen hermachen, einige Worte der Begrüßung an euch richte. Auch wenn das, was ich zu sagen habe, nur für die Neuen interessant sein wird, würde ich es dennoch schätzen, wenn mir auch die Alteingesessenen zumindest mit einem halben Ohr zuhörten, auch wenn sie sich unerträglich langweilen. – Nun denn, zunächst einmal herzlich Willkommen zu einem neuen Jahr in Hochwärts. Wir werden, wie immer, alles in unserer Macht stehende tun, um euch nach bestem Wissen auszubilden. Warum tun wir das?« Er schaute in die Runde. »Nun, weil wir euren Eltern versprochen haben, dass wir euch von der Straße holen, und weil wir vom Ministerium eine verdammte Stange Geld dafür bekommen. Aber von irgendwas müssen wir schließlich leben. Also: Bildung für euch, Geld für uns. Ich finde, das ist nur fair.
Nach dem gleich stattfindenden Abendessen werdet ihr von den Marshalls eurer Häuser in eure Gemeinschaftsräume gebracht. Das Wohnen in den Aufenthalts- und Schlafräumen ist nach wie vor mietfrei, obwohl die Zuschüsse vom Ministerium schwer gekürzt wurden. Die schlechte Nachricht: Die Geschlechtertrennung in den Schlafräumen wurde auch in diesem Jahr aufrechterhalten. Ist ja schließlich eine Schule und keine Partnerschaftsvermittlung.« Er kicherte über seinen eigenen Witz. »Äh, ja. Morgen kriegt ihr in der Bekleidungskammer die Aufnäher mit den Hausemblemen für eure Umhänge. Fortan gilt für die gesamte Unterrichtszeit Tragepflicht für diese Tuntenfummel – oh, tut mir leid, Schwylerin. – Wie ihr in der Freizeit rumlauft, bleibt euch überlassen, solange ihr nicht gegen die guten Sitten verstoßt.
Zum Schluss bitte ich euch, die Sicherheitshinweise zur Kenntnis zu nehmen. Das Video läuft als Endlosschleife auf allen Terminals der Info-Center auf den Etagen sowie im Eingangsbereich. Bitte schaut euch das Video zumindest einmal an und beherzigt die Hinweise. Ihr wisst ja, unser Schusi-Chef, Mr. Filz, sieht alles.« Schwurbelbart nickte zu einem Pfeiler hinüber, an den ein alter Mann mit Hut und beigefarbenem Trenchcoat gelehnt stand. Er sah allerdings nicht im Entferntesten wie ein aufmerksamer Beobachter aus, sondern eher, als kippte er jeden Moment vor Schwäche aus den Latschen. Auf dem Arm hielt er mühsam ein kleines Männchen im weißen Anzug, das man für eine Bauchrednerpuppe hätte halten können. Allerdings war das Männchen höchst lebendig, spähte aufmerksam umher und reckte sich wiederkehrend zum Ohr des Sicherheitschefs hinauf, um ihm dies und jenes zuzuflüstern. Es trug eine dickrandige Hornbrille und einen weißen Hut, den Heinrich als den Panamahut aus der Findungskommission wiedererkannte.
»Das sind Mr. Filz und sein kleiner Genosse Erich«, flüsterte Rum. »Die sollen hier so was wie die totale Überwachung aufgezogen haben. Nennt sich Abteilung für Schulsicherheit.«
Mr. Filz hielt den Kopf gesenkt und wirkte unaufmerksam, aber der kleine Erich musterte die Schüler mit Argusaugen und ließ sich keine Einzelheit entgehen. Er kam Heinrich merkwürdig bekannt vor.
Schwurbelbart kam zum Ende. »So, das wär 's vorläufig. Alles Weitere erzählen euch morgen die Hauslehrer. Ich halte nun erst mal den Rand und erkläre das Buffet für eröffnet.« Er schwang den Zauberstab und ließ die Abdeckungen vom Abendbuffet, das auf Serviertischen zwischen Getränke- und Kaffeeautomat am anderen Ende des Saales aufgebaut war, verschwinden.
Allgemeines Stühlerücken setzte ein, begleitet vom erleichterten Aufatmen der Schüler über die beendete Begrüßungsrede. Horden von Schülern drängten lärmend heran, griffen Teller und Bestecke von den bereitgestellten Stapeln und machten sich gierig über das Buffet her.
Neben klassischen Buffetbestandteilen wie Schnitzeln, Hühnerbeinen, Braten, Kartoffeln und diversen Gemüsen, fielen Heinrich die zahllosen Kürbisvariationen auf. Kürbis gebraten, gekocht, gebacken, gesotten, gedünstet, Kürbismus, Kürbisspalten, Kürbisauflauf ...
»Bisschen viel Kürbiszeug, oder? Waren die im Angebot?«, murmelte Heinrich und lud sich Schnitzel, Bratkartoffeln und Gemüse auf den Teller. Die Kürbisse ließ er links liegen.
Auch Rum packte reichlich auf seinen Teller, verschmähte aber auch die Kürbisse nicht. »Ich schätze, sie versuchen damit einer Erwartungshaltung gerecht zu werden«, sagte er. »Nach dem allgemeingültigen Klischee hat in einer Zaubererwelt gefälligst alles mit Kürbissen versetzt zu sein. Das ist so Tradition.«
Gemeinsam kehrten sie an ihren Tisch zurück und kurz darauf wurde an der ganzen Tafel mit großem Appetit gegessen. Alteingesessene tauschten lebhaft ihre Ferienerlebnisse aus, während die Erstsemester interessiert ihre neue Umgebung und ihre künftigen Mitschüler beschnupperten.
»Ein Glas Kürbislimo?«, fragte Rum und reichte Heinrich eine große Kristallkaraffe.
Heinrich knurrte, ließ sich dann aber doch von Rum das Glas vollschenken, während er sich seinem Schnitzel zuwandte, das sich als Cordon Bleu erwies. »He, da ist ja Kürbis in dem gefüllten Schnitzel.«
Die meisten der Kinder um Heinrich und Rum herum waren ebenfalls Neuankömmlinge, von denen sie einige bereits auf dem Bahnsteig gesehen hatten. Lärmine Danger zeigte ihnen weiter den Rücken, hatte ihren Teller auf dem Schoß und schwatzte mit den Haferstrohs. Neben ihr, ebenfalls mit dem Rücken zum Tisch, saßen zwei weitere Mädchen, die sich begeistert an der Unterhaltung beteiligten: ein auffallend hübsches schwarzhaariges Mädchen namens Palavi Ventil und ein gut gelauntes dunkelhäutiges Mädchen namens Lavendel Braun. An Lärmines anderer Seite hockte Nörgel Mountbatten, der tapsig wirkende Junge mit dem Murmeltier. Neben ihm saß ein Mädchen mit langen blonden Haaren, das sichtlich Rums Aufmerksamkeit erregte.
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