Die Räumlichkeiten, die sie durchquerten, hatten nichts mehr von der nüchternen Büroatmosphäre des Gebäudeflügels mit der Findungskommission. Dafür wechselten jetzt hohe Gänge mit Gewölbedecken und steinernen Wänden aus unverputzten groben Quadern mit solchen, die aufwändig holzvertäfelt, mit golden schimmernden Gemälden behängt und warm und behaglich waren. Auf einem solchen Flur lag ihr Ziel. Die Frau öffnete eine mit Schnitzereien verzierte hohe Tür und winkte Heinrich herein. An der Tür stand ›Prof. Conserva McGummiball – Stellv. Leiterin ...‹. Den Rest konnte er nicht mehr lesen, aber hier hatte er offenbar die Absenderin der geheimnisvollen E-Mail vor sich, mit der sein Dilemma am gestrigen Samstag begonnen hatte und mit der sein Vater und er über das Notebookmikrofon gesprochen hatten. Was mochte sie von ihm wollen? War sie endlich die Person, die er brauchte, um seine ersehnte Heimreise zu arrangieren? Für den Augenblick war er bereits wunschlos glücklich darüber, es wieder mit einem Menschen aus Fleisch und Blut zu tun zu haben; obwohl es mit Fleisch an der knochigen Gestalt der Professorin nicht weit her war und ihr schmallippiges Gesicht eher von Blut leere zeugte. Aber für das Footballposter, das zwischen all den Ölgemälden an der holzvertäfelten Wand hing, räumte er ihr sogleich eine Menge Sympathiepunkte ein, wenngleich es neben den alten Gemälden wirkte, wie ein Kaugummibild in einer wertvollen Briefmarkensammlung.
Sie wies Heinrich einen lederbezogenen Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch an. Heinrich setzte sich und sah der Professorin zu, wie sie eine Menge Papiere auf dem überladenen Schreibtisch zu wackeligen Stapeln aufschichtete und dabei eine metallene Keksdose zutage förderte. »Ach, hier ist die«, murmelte sie weltvergessen. »Habe ich schon gesucht. – Keks?« Sie hielt Heinrich die geöffnete Keksdose hin.
»Danke, Professor«, brachte Heinrich mühsam hervor und griff zaghaft zu.
»Bedien dich ruhig.«
Heinrich fiel auf, dass sie bei der Anrede in das persönlichere Du verfallen war, sobald sich die Bürotür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Hier müsste dringend aufgeräumt werden«, brummte die Professorin lustlos, ließ eilig ein zerlesenes Mad-Magazin in einer Schublade verschwinden und schob die Papierstapel so weit zur Seite, dass sie freien Blick auf ihr Gegenüber hatte. Dann ließ sie sich von Heinrich das Einschulungszertifikat geben. Sie überflog es und blickte ihn über die Brillengläser hinweg an. »Also, Harr...«
»Heinrich«, unterbrach Heinrich.
»Also schön: Heinrich, wenn dir das besser gefällt. Wir hatten ja gestern bereits das Vergnügen, wie du dir sicher denken kannst.«
»Ja, das dachte ich mir, Frau Professor.«
»Professor reicht«, sagte Professor McGummiball gönnerhaft. »Nun, ich bin froh, dass deine Reise hierher doch noch so kurzfristig möglich war. Ich muss zugeben, wir hatten unsere Zweifel, dass wir dich rechtzeitig finden würden, Harr...«
»Heinrich.«
Professor McGummiball zog leicht unwillig die Augenbrauen zusammen. »Vielleicht solltest du erwägen, deinen Namen bei der Magischen Union in Brüssel registrieren und in das automatische Übersetzungsprogramm aufnehmen zu lassen. Wir haben Schüler aus aller Herren Länder. Ein babylonisches Sprachgewirr wäre da höchst hinderlich. Trotzdem hast du natürlich ein Recht darauf, so gerufen zu werden, wie du es möchtest und ich werde die Kollegen bitten, dich mit Herr Töpfer oder Heinrich anzusprechen, wenn dir daran gelegen ist.«
»Daran wäre mir wirklich gelegen, Professor. Aber es geht mir nicht nur darum, mit dem richtigen Namen angesprochen zu werden, sondern darum, dass ich ein anderer bin, als der andere, verstehen Sie?«
»Nein.«
»Der Junge, den Sie meinen und ich ... wir sind zwei unterschiedliche Personen, Professor.«
Sie las erneut in dem Papier. »Hm, die Findungskommission hat in deine Beurteilung geschrieben, dass bei dir leichte Tendenzen einer multiplen Persönlichkeit erkennbar seien ...«
»Aber nein!«, rief Heinrich verzweifelt.
»Du musst wissen, ich war damals selber dabei, als wir dich auf der Türschwelle deiner Pflegeeltern abgesetzt haben.«
»Sie meinen die Durstigs. Die haben früher da gewohnt.«
»Mir tun von dem Unfall heute noch die Knochen weh.«
»Ehrlich, sie heißen Durstig und sind vor etlichen Jahren weggezogen.«
»Aus der Zeit hast du übrigens auch die Narbe.«
»Wermut und Petunie Durstig. Eine seltsame Sippe. -«
»Professor Schwurbelbart wird dir die Geschichte deiner Herkunft erzählen, sobald er Zeit gefunden hat. -«
»- Sie tun nichts anderes, als ihren Neffen zu schikanieren und ihren fetten Sohn Diddl zu mästen.«
»- Es kann ein paar Tage dauern. -«
»Dieser Neffe ist der, den Sie eigentlich suchen.«
»- Bis dahin bitte ich dich, dich vernünftig einzuleben und auf das Ziel vorzubereiten, für das wir alle hier sind: Ein guter Zauberer zu werden.«
»Kann nicht zaubern.«
»Keines der Kinder kann zaubern, wenn es hierher kommt. Sonst wären wir Lehrer ziemlich überflüssig, findest du nicht?«
»Professor McGummiball, ehrlich, ich muss so schnell wie möglich zurück nach Hause. Meine Eltern werden sich Sorgen machen, wenn ich mich nicht melde.«
»Kein Grund zur Aufregung. Alle Erziehungsberechtigten werden vom wohlbehaltenen Eintreffen ihrer Kinder benachrichtigt. Im Fall deines Onkels werde ich das persönlich übernehmen. Er scheint im Umgang mit modernen Kommunikationsmitteln etwas überfordert zu sein.«
Heinrich schaute auf die Papierberge auf dem Schreibtisch. Falls sich darunter nicht irgendwo ein Telefon oder ein Computer verbarg, stellte er sich eine Kontaktaufnahme schwierig vor. »Wie machen Sie das?«
»Wir haben unsere Methoden.«
»Könnte ich vielleicht selbst ...?«
»Ausgeschlossen. Kein privater Kontakt der Schüler mit ihren Erziehungsberechtigten während der Semester. Das lenkt nur vom Lernen ab.«
»Aber, Professor ...«
»Schlag dir das aus dem Kopf. Und um dir eine Illusion gleich zu nehmen«, fuhr sie fort, »falls du mit dem Gedanken spielst, dich rauswerfen zu lassen ...«
Heinrich wurde hellhörig. Rauswerfen? Daran hatte er noch gar nicht gedacht.
Professor McGummiball sah Heinrich scharf an. »Die Findungskommission hat dich nach Heldenheim gesteckt. Ich bin, wie du vielleicht schon erraten hast, nicht nur die stellvertretende Leiterin dieser Akademie, sondern auch Leiterin des Hauses Heldenheim und ...« Sie unterbrach sich selbst und plötzlich entspannten sich ihre Gesichtszüge. »Wie fandest du übrigens den Hut mit der Blumenstickerei?«, fragte sie in komplett verändertem Tonfall.
Heinrich war sich nicht sicher, wie er auf die Frage reagieren sollte. »Oh, ich, äh ..., hübsch.«
Trotz Blutarmut brachte die Professorin ein leichtes Rosa in ihren knöchernen Wangen zustande. »Es ist meiner«, sagte sie, sah verlegen zur Seite und lächelte andeutungsweise. »Du solltest ihn sehen, wie er erst zusammen mit meinem neuen Sommerkleid ... äh, zurück zum Thema.« Sie straffte sich. »Aus meinem Haus wird man nicht hinausgeworfen, merk dir das. Du verlässt dieses Haus als ausgebildeter Zauberer. Vorzeitige Entlassung gibt's nur mit den Füßen voran, falls du verstehst, was ich meine. Lege es also nicht darauf an.«
Sie lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück, während Heinrich sich vorzustellen versuchte, wie diese in dunkle Gewänder gehüllte Person mit dem strengen Haarknoten, in einem flotten Sommerkleid unter einem cremefarbenen, breitkrempigen Hut aussehen mochte. Seine Vorstellungskraft reichte dafür jedoch nicht aus.
»Aber ich wollte nicht mit dir sprechen, um dir Angst einzujagen , sondern ein paar Ängste zu nehmen , die du offenbar hast.«
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