Samlas beruhigte sich langsam und Kornos, der Truppenführer, der als Letzter eingetroffen war, da er den weitesten Weg hinter sich hatte, lenkte sein Pferd ein wenig näher an Kalerid heran und gab ihm leise einige Instruktionen im Umgang mit diesen Tieren. Man sah, dass er schon geübter war und Kalerid hörte ihm einen Augenblick zu. Er versuchte Kornos Haltung nachzuahmen und nach einer Weile saß er tatsächlich sicherer im Sattel. Als Dank gab er Kornos einen kräftigen Stoß in die Rippen; Höflichkeit war bei den Sellag auch untereinander keine weit verbreitete Eigenschaft. Der Truppenführer fügte sich wieder in die Reihe der anderen.
Auf einen kurzen Befehl des Heerführers hin setzte sich der Trupp in Bewegung. Allen voran Kalerid, flankiert von Marek und einigen anderen Sellag, die keine Pferde zugeteilt bekommen hatten. So liefen sie abwechselnd auf zwei oder vier Beinen neben dem Ross ihres Herrn. Entweder hatte der Heerführer seinen Untergebenen keine Rösser zugestanden, oder ihnen waren die Reittiere nicht geheuer. Hinter Kalerid folgte der Karren, auf dem sich Herras befand. Der Wagen war angespannt worden und wurde von einem kräftigen Sellag gelenkt. Neben dem Pferdefuhrwerk ritten Kornos und ein weiterer Truppenführer, dahinter kamen in Zweierreihen die acht anderen. Hinter den Truppenführern marschierte noch eine Gruppe von etwa zwanzig Sellag aus Kalerids Hofstaat, die dem Zug ebenfalls zu Fuß folgen mussten; darunter waren auch die vier Wachen, die Herras in der Nacht hinunter auf den Hof gebracht hatten.
Langsam verließ der Trupp den Schlosshof durch das große Tor und bog in die Hauptstraße von Alland Pera ein, die geradewegs den Hügel hinunter zum östlichen Schlosstor führte. Sie kamen nur stockend voran. Kalerid fühlte sich keineswegs sicher auf seinem Pferd und zog es vor, nicht schneller zu reiten, als es unbedingt nötig war. Herras bekam dadurch die Gelegenheit, festzustellen, welche Verwüstungen in der Stadt angerichtet worden waren. Obwohl die Erschütterungen des Wagens seinem schmerzenden Nacken noch mehr zusetzten, konnte er seinen Blick nicht abwenden. Viele der kleinen Häuser waren niedergebrannt, die Gärten zertrampelt. Die Fenster waren zerbrochen und die Türen eingetreten. Es war ein Bild des Jammers. Wo er hinsah, liefen Sellag herum. Sie plünderten die Häuser, die sie übernommen hatten, und schafften die Leichen der Menschen weg, die auf den Straßen lagen. Männer, Frauen, Kinder - sie hatten kein Erbarmen gekannt. Lebende Menschen konnte Herras nirgendwo entdecken und er begann sich zu fragen, ob überhaupt jemand das furchtbare Gemetzel überlebt hatte.
Als sie das östliche Stadttor passiert hatten, musste Herras mit ansehen, was die Sellag mit den sterblichen Überresten der getöteten Menschen taten. Etwa tausend Barret von Alland Pera entfernt, hatten die Fremdlinge einen riesigen Scheiterhaufen errichtet. Widerlich stinkender Rauch stieg in einer schwarzen Wolke davon auf. Herras musste gegen seine aufsteigende Übelkeit ankämpfen. Immer mehr Leichen wurden auf den Haufen geworfen und die Flammen leckten gierig nach ihnen.
Herras senkte den Kopf und gedachte der Toten. Wie viele davon mochte er wohl gekannt haben? In ihm keimte der Wunsch auf, ihnen so schnell wie möglich in Hembras’ Reich zu folgen. Wie jedes Volk, glaubten auch die Allendasser an einen Schöpfer, denen sie die Gunst oder die Last (je nach der momentanen Lage) ihres Seins verdankten. Die Allendasser nannten ihn Hembras.
Bald hatten sie den Scheiterhaufen hinter sich gelassen, aber Herras glaubte, den üblen Geruch der verbrannten Körper noch immer in der Nase zu haben. Sie befanden sich weiterhin auf der Straße nach Osten, die sie durch grüne saftige Wiesen, zwischen Hügeln und kleinen, friedlichen Tannenhainen entlang führte. Der Schönheit des Landes hatte die schreckliche Belagerung noch nichts anhaben können. Es war ein lauer Herbsttag und die Vögel sangen, denn sie ahnten nicht, welche dunkle Gewalt sich des Landes bemächtigt hatte. Herras war jedoch weit davon entfernt, etwas von der Herrlichkeit seiner Heimat wahrnehmen zu können. Noch immer hatte er keine Ahnung, welche Pläne Kalerid mit ihm hatte. Warum machten sich die Sellag eine solche Mühe mit seinem Tod? Alles, was er sich an diesem sonnigen Tag wünschte, war ein Ende des entsetzlichen Wartens und eine schnelle Hinrichtung.
Kalerid hingegen war frohen Mutes. Er war noch immer zufrieden mit sich und der Welt. Er hatte sein ganzes Leben in dunklen Höhlen und auf öden Gebirgspässen verbracht. Wiesen und Bäume kannte er nur von den Hochweiden, auf denen die Sellag ihr Vieh hielten, doch das war nichts im Vergleich mit dieser prächtigen Vielfalt der Natur. So etwas kannte er nur aus den alten Erzählungen seines Volkes und aus den Berichten seiner Späher, die für seinen Vater und ihn das Land schon seit langer Zeit unbemerkt erkundet hatten, um den Feldzug vorzubereiten. Wenn Kalerid ehrlich zu sich selbst war, musste er gestehen, dass es ihm gefiel und wenn er sich bewusst machte, dass alles, was er sah, nun ihm gehörte, gefiel ihm alles noch viel besser. Vorfreude erfüllte sein Herz. Sein Plan, den er sich für den gefallenen König ausgedacht hatte, würde den gelungenen Abschluss eines erfolgreichen Feldzugs darstellen. Boran, einer seiner erfahrensten und fähigsten Späher, hatte ihm von dem Land berichtet, das an Allendas angrenzte. Er hatte ihm von den dunklen Wäldern erzählt, deren dichtes Unterholz beinahe undurchdringlich war. Die Allendasser nannten das Land Lemberus und sie hatten es mit vielen Sagen und Mythen belegt 5). Es würde die perfekte Umgebung für sein Vorhaben bilden. Seine Truppenführer würden begeistert sein, davon war der Kalerid überzeugt. Sie hatten hervorragende Arbeit geleistet und seine Erwartungen bei weiten übertroffen. Der Tag war wunderbar für eine Treibjagd geeignet und der Gewinn war nicht zu verachten. Der Heerführer würde den Sieger zu seinem persönlichen Stellvertreter ernennen.
Kalerid saß mittlerweile fester im Sattel und zog das Tempo an. Er wollte nicht zu spät ankommen und damit riskieren, noch eine weitere Nacht auf sein Vergnügen warten zu müssen.
4) Kil = Zeiteinheit (1Kil = 1, 736 Minuten)5) Wie gesagt, es gab in Allendas nicht viel Stoff für gute Geschichten und so beschäftigten sich die Allendasser zumindest auf diese Weise mit dem, was sich um sie herum befand.
Sie brachten Hondor hinunter in den Kerker seines Schlosses und behandelten ihn dabei nicht weniger unsanft, als Herras. Er war übersät mit Prellungen und kleineren Wunden, als sie endlich ihren Weg durch die tristen Gänge des ehemals prächtigen Schlosses beendet hatten und in seinem düsteren Gefängnis angekommen waren. Ein erschreckender Anblick bot sich seinen Augen. Die Kerkerräume waren überfüllt mit Angehörigen seines Volkes. Noch nie, seit Hondors Geschlecht die Macht über Allendas übernommen hatte, hatte der Kerker so viele Gefangene beherbergen müssen. Schwere Verbrechen gab es in Allendas so gut wie nie. Nur selten wurde einem Strauchdieb oder kleinen Trickbetrüger eine Lehre erteilt, in dem er ein oder zwei Nächte in den feuchten Gemäuern verbringen durfte.
Nun kauerten überall in den Räumen verängstigte und hilflos wirkende Menschen, Männer, Frauen und Kinder aus Alland Pera, die in ihrer Verzweiflung völlig aufgelöst zu sein schienen.
Ein Ruck ging durch die Menge, als Hondor hineingeschleift und unsanft in eine Ecke geworfen wurde. Seine Hände und Füße waren noch immer gefesselt und er fiel hart auf den strohbedeckten Steinboden. Die meisten Anwesenden erkannten den Neuankömmling sofort, aber sie wagten es nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben. Es mangelte nicht an Sellag-Wachen und diese zögerten auch nicht, von ihren Schwertern Gebrauch zu machen, wenn jemand ein falsches Wort wagte. Diese Erfahrung hatten sie bereits gemacht. So starrten sie den König nur mit schreckgeweiteten Augen an.
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