Herras nahm all seinen verbliebenen Mut zusammen und folgte seinem Herrn, als dieser entschlossen die schweren Türen seines Gemachs aufstieß und den Gang betrat. Für den Hauptmann der königlichen Wachen gab es in einem derartig friedlichen Land nicht viel zu tun, was mit Kampf und Gewalt zu tun hatte. Seine Männer mussten sich um Nachbarschaftsstreitigkeiten und Taschendiebe kümmern, doch noch nie hatten sie einem Gegner im Krieg gegenübergestanden. Herras fehlte es nicht an Entschlossenheit und Tatendrang, doch, ebenso wie seinem König, an Erfahrung.
Herras’ Mund war ausgetrocknet und seine Muskeln angespannt, als er Hondor dicht auf den Fersen blieb. Er war bereits dort draußen gewesen und wusste, wie es um Alland Pera und seine Bevölkerung stand. Viele waren bereits getötet oder überwältigt worden, bevor er die Gemächer des Königs erreicht hatte. Herras zweifelte daran, dass es außerhalb des Schlosses noch eine lebende, freie Seele gab. Aber es war bereits zu spät, den König aufzuhalten und Herras beeilte sich, ihm zu folgen. Es stand ihm nicht zu, die Entscheidung des Königs anzuzweifeln, aber er würde ihm zumindest folgen und sei es in den sicheren Tod. Herras’ Familie stand seit langen Zeiten in den Diensten des Königsgeschlechts. Sie hatten ihm Treue geschworen und er würde seinen Schwur halten, komme was wolle.
Der König und sein Hauptmann kamen nicht weit. Noch bevor sie die erste Stufe der breiten Treppe erreicht hatten, die den Südtrakt des Schlosses, in dem sich die Gemächer des Königs befanden, mit dem Hauptteil verband, bekam der König zum ersten Mal seine Feinde zu Gesicht.
Sie hatten bereits das Schloss und die Stadt besetzt und sie waren wahrhaftig zufrieden mit sich. Ihr Anführer hatte sich des Thrones bemächtigt und sie waren diejenigen, die dazu auserkoren waren, den König zu holen. Sie sollten ihn lebendig gefangen nehmen und obwohl diese Anordnung den Instinkten ihrer Rasse widersprach, zeigte sich doch ein begeistertes Grinsen in ihren hässlichen Fratzen. Ihre Zähne stachen dunkel hervor und ihr stinkender Atem verbreitete sich schnell in den Gemäuern des Schlosses.
Hondor roch sie bereits, bevor er ihre schemenhaften Gestalten im Schein des Mondes, der durch die offenen Fenster fiel, sehen konnte. Er zog sein Schwert und Herras tat es ihm gleich.
Dann griffen die Kreaturen an. Sie hatten kaum eine Chance. Hondor tötete drei von ihnen mit seinem Schwert, aber es waren zu viele. Sie überwältigten ihn, nahmen ihm seine Klinge ab und warfen ihn hart zu Boden. Er spürte, wie ihm die Hände auf den Rücken gefesselt wurden. Dann hoben sie ihn auf und trugen ihn fort, ohne dass er sich dessen hätte erwehren können. Hilflos musste er alles über sich ergehen lassen. Sie waren in der Überzahl und sie waren erstaunlich stark. Aus den Augenwinkeln konnte der König noch sehen, wie sie Herras das Gleiche antaten.
1) Wobei diese Meinung auf nur sehr wenigen verbliebenen Überlieferungen beruhte.
Kalerid war zufrieden mit seinen Kriegern. Doch noch mehr war er es mit sich selbst. Sein Schlachtplan hatte sich als vortrefflich und erfolgreich erwiesen und dazu war es noch so herrlich einfach gewesen.
Während er das belebende Gefühl des Sieges genoss, fragte sich der Heerführer der sellagischen Truppen, warum sein Vater und alle vor ihm so lange gezögert hatten, Allendas zurückzuerobern.
Zu lange hatte das Volk der Sellag in den hohen Gebirgszügen Gerlands hinter der westlichen Grenze des Landes hausen müssen, zu lange hatten sie sich in Höhlen und Felsspalten verkrochen, ausgeharrt und den schlechten Witterungsverhältnissen getrotzt. Endlich war ihr Tag gekommen.
Berild, Kalerids Vater, hatte, wie seine Väter zuvor, viele Jahre darauf verschwendet, eine übermächtige Truppe aufzustellen und auszubilden. Er hatte Späher nach Allendas ausgesandt, um das Volk und ihre Gepflogenheiten zu studieren und er hatte seine Befehlshaber gezwungen, sogar die Sprache der Allendasser zu lernen, ohne jemals den Befehl zum Angriff gegeben zu haben. Zu viele Krieger waren alt geworden und gestorben, ohne dass jemals ihre Gelegenheit gekommen war. Lange hatte Berild über seinen Feldzug gebrütet. Kalerid konnte darüber nur lachen. Auch mit der Hälfte an Kriegern hätten sie die verweichlichten und einfältigen Menschen überwältigen können. Innerhalb einer Nacht hatten die Sellag-Truppen die Grenzen zu Allendas überschritten und das Land in ihre Gewalt gebracht. Und nun, die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen, hatte Kalerid bereits den Thron übernommen. Die Tat, auf die sein Vater über so lange hingearbeitet hatte, war in lächerlich kurzer Zeit vollbracht worden.
Den König hatte er während der Schlacht nicht einmal zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich verkroch sich der hochwohlgeborene Jüngling in seinen Gemächern unter weichen Daunen. Aber auch das würde ihm nichts helfen. Kalerid hatte ein Dutzend seiner besten Krieger losgeschickt und sie würden den gefallenen König von Allendas holen und ihm seinem neuen Herrn vorstellen.
Er hatte ihnen befohlen, ihn lebend zu bringen, denn der Heerführer der Sellag wollte seine Schmach bis ins Letzte auskosten. Ein toter König konnte nicht mehr wimmern und flehen.
Hocherhobenen Hauptes saß Kalerid auf dem Thron im großen Saal des Schlosses von Alland Pera. Seine Krieger beseitigten die Zeichen der kurzen Schlacht. Sie schafften die Leichen der Menschen, die bei dem kläglichen Versuch, das Schloss zu verteidigen, gefallen waren, hinaus. Der selbst erwählte, wenn auch ungekrönte2 Herrscher von Allendas, natürlich würde er auch den Namen seines Reiches bald ändern, wollte keine Toten in seinem neuen Heim. Er verabscheute den süßlichen Geruch des menschlichen Blutes. Zudem hatte Kalerid angeordnet, die Banner und Fahnen mit den Zeichen des gefallenen Herrschergeschlechts zu entfernen. Kahle, steinerne Wände gaben ihm das Gefühl, zu Hause zu sein. Kalerid lehnte sich gegen die hohe und aufwändig geschnitzte Rückenlehne des allendassischen Throns und grunzte genießerisch, während er seinen Untergebenen bei der Arbeit zusah.
Dann wurden die mächtigen Türflügel des Thronsaals mit einem kräftigen Stoß aufgeschwungen. Früher als erwartet schleifte man den König und einen weiteren Gefangenen in den Saal und warf sie Kalerid vor die Füße. Hart schlugen die Gefesselten auf dem Steinboden auf und Kalerid begutachtete seine noch wertvolle Beute (bald würde der König von Allendas und dessen Leben keine einzige Goldmünze mehr wert sein) mit aufmerksamen Augen.
»Sieh einer an!« Seine Stimme triefte vor Hohn, als er sich von seinem Platz erhob, um seine Gefangenen näher zu betrachten.
Hondor erwiderte den Blick der schwarzen Augen kalt. In seinen grünen Pupillen glänzte Stolz. Er hatte seine Würde noch nicht verloren, auch wenn seine Lage aussichtslos schien.
Auch Herras hielt dem durchdringenden Starren des Sellag stand. Obwohl seine Furcht ihn im Inneren erzittern ließ, fand nichts davon den Weg in seine Augen.
Kalerid war beeindruckt, auch wenn er es niemals zugegeben hätte; er hatte den Menschen nicht so viel Stolz zugetraut. Er stelle sich auf seine Hinterbeine und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. In dieser Haltung war er größer, als die meisten Angehörigen seiner Rasse. Seine großen Füße, deren Nägel sich zu Krallen ausgewachsen hatten, klatschen plump auf dem Boden, als er einmal um die auf dem Boden knienden Gestalten herumging. Speichel tropfte auf den König und seinen Begleiter herab, als sich der Heerführer zu ihnen herunterbeugte.
»Was für jämmerliche Gestalten«, zischte Kalerid herablassend. »Der edle König Hondor und, wie ich annehme, einer seiner treuen Diener.« Kalerid umrundete seine Gefangenen noch einmal und ein heiseres Lachen entrann seiner Kehle. Er hatte nur ein Problem. Er wusste nicht, wer von den zwei rosahäutigen, kindergesichtigen Schwächlingen der König sein sollte. Beide trugen sie Kettenhemden und auch in ihrer restlichen Kleidung konnte er keinen bedeutenden Unterschied erkennen. Er hatte allerdings Mittel und Wege, um sich Gewissheit zu verschaffen.
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