Zorina, eine junge Frau, überwand als Erste ihre Starre. Sie saß dicht neben dem König an die Wand gelehnt und streckte ihre Hände aus, um dem auf dem Boden liegenden Mann in eine sitzende Position zu helfen. Als Hondor sie ansah, erkannte er sie sofort. Sie war die Tochter des Hofschmieds. Er hatte sie schon oft beobachtet, wenn er seinen treuen Samlas selbst zum Beschlagen der Hufe gebracht hatte.
»Danke«, flüsterte Hondor leise, als er sich schwer mit dem Rücken an die Mauer stützte.
»Ich bin glücklich, Euch lebendig zu sehen, Majestät! Was tut Ihr hier?«, fragte Zorina und musterte ihn verwundert und auch erleichtert mit ihren großen braunen Augen. »Wir dachten, Ihr seid tot. Die Wachen sagten, dass man Euch...«
Hondor schüttelte heftig den Kopf. Sie hielt sogleich inne und der König schaute sich vorsichtig nach den Wachen um. Die Sellag schienen nicht bemerkt zu haben, mit welchem Titel sie ihn angeredet hatte. Mit einer kurzen Bewegung deutete er ihr, ein wenig näher zu kommen und sie rückte unauffällig ein Stück an ihn heran.
Leise, so leise, dass Zorina ihn kaum verstand, flüsterte Hondor ihr zu: »Ihr dürft mich nicht mit meinem Titel anreden. Unsere Feinde dürfen nicht erfahren, wer ich bin. Herras hat meine Stellung eingenommen. Er hat sich für mich den Sellag gestellt und wir dürfen sein Opfer nicht entweihen, indem wir meine Identität vorschnell preisgeben.« Ein dunkler Schatten legte sich über Hondors Gesicht, als er an seinen ergebenen Freund dachte und an das Schicksal, das ihn ereilt haben mochte. Trauer erfüllte ihn. »Ich bin jetzt Herras, Hauptmann des Königs.«
Zorina nickte verstehend. »Kein Wort wird über meine Lippen kommen, Herras.« Es klang fast wie ein Schwur. »Sellag heißen sie also, diese Ungeheuer«, bemerkte sie nach einer Weile. »Sie haben Schreckliches angerichtet. Ohne Gnade haben sie uns überfallen. Viele wurden getötet. Das ist der klägliche Rest, der von uns übrig geblieben ist.« Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und Hondors Augen folgten ihm. Er konnte ihre Trauer deutlich spüren, die nicht geringer als seine eigene war.
»Wir werden aber nicht aufgeben, auch wenn sie in der Überzahl sind.« Hondor versuchte ihr Hoffnung zu machen, die er selbst kaum empfand.
Nun wurde eine der Wachen auf ihr Flüstern aufmerksam. Mit einem wilden Fauchen ging er zwischen die beiden Menschen und drängte Zorina ein Stück von Hondor weg.
Die Zeit schlich langsam dahin. Hondor spürte die aufmerksamen Blicke der Sellag genauso auf sich ruhen, wie die erwartungsvollen und verängstigten seiner Untertanen. Er hätte sich gewünscht, er könnte ihnen Mut zusprechen und ihnen ihre Angst nehmen, aber ihm waren im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden und so blieb ihm nichts anderes übrig, als tatenlos auszuharren.
Als der Tag herangebrochen war und helles Sonnenlicht durch die kleinen, vergitterten Fenster in die dunklen, feuchten Gemäuer fiel, hatte das Warten noch immer kein Ende genommen. Die Sellag-Wachen streunten unruhig zwischen ihren Gefangenen umher und Hondor gewann langsam den Eindruck, dass sie selbst nicht genau wussten, was sie mit ihnen anfangen sollten. Sie schienen noch keine Befehle von ihrem Anführer bekommen zu haben und ihre Unruhe nahm ebenso zu wie Hondors.
Am frühen Nachmittag hatte der Trupp sein Ziel erreicht. An der Grenze, die Allendas von Lemberus trennte, brachte Kalerid den Zug zum Stehen. Als Allendas vor vielen Jahrhunderten als Land vermessen und die Grenzen festgelegt wurden, mussten die damaligen Herrscher sehr wählerisch gewesen sein. Jenseits der Landesgrenze befand sich ein düsterer Wald. Auf Allendas’ Seite hingegen erstreckten sich weite, saftige Wiesen, die von bunten Blumen übersät waren. Der landschaftliche Kontrast hätte nicht größer sein können.
Herras war noch nie an diesem Ort gewesen. Wie schon erwähnt, waren die Menschen von Allendas nicht besonders reiselustig; nur selten verließ jemand sein Dorf oder seine Stadt und wenn, dann nur, wenn es sich unter keinen Umständen vermeiden ließ und niemals länger, als es unbedingt sein musste. Lemberus kannte Herras nur aus Geschichten und Erzählungen und alle hatten einen schauerlichen Charakter, handelten von bösen Hexen und Zauberern oder von wilden Kreaturen, die Lemberus bewohnten. Aber auch die Furcht erregendsten Märchen seiner Kindheit konnten Herras nun nicht mehr erschrecken, angesichts des Grauens, das er an diesem Tag gesehen hatte.
Kalerid stieg ungelenk vom Pferd. Auch seine Truppenführer sprangen nach und nach von ihren Tieren, doch keiner schien so erleichtert wie der Heerführer, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Mit einer Handbewegung deutete Kalerid den Wachen, Herras vom Wagen zu holen. Dann begann er mit seiner Ansprache, die er sich auf dem Weg zurechtgelegt hatte. Sie klang erstaunlich höflich, zumindest für einen Sellag. Der Heerführer schien sich in seiner Rolle als König hineinfinden zu wollen. Irgendjemand musste ihm erzählt haben, dass man sich als König auch königlich zu verhalten hatte, doch so recht schien er mit diesen Begriffen nichts anfangen zu können. »Truppenführer und getreue Sellag«, sagte er und richtete sich dabei zu seiner vollen Größe auf. »Wir haben einen großen Sieg errungen. Das Land, das einst uns gehörte und das uns auf schändlichste Art und Weise genommen wurde, befindet sich nun wieder in unserem Besitz. Jeder von Euch hat seine Aufgabe ehrenvoll erfüllt. Der ehemalige König von Allendas befindet sich in unserer Hand und wir werden ihn nun seinem gebührenden Ende zuführen. Allerdings soll auch sein Tod nicht ohne Nutzen für uns sein. Wir werden ihn nun freilassen und derjenige, dem es gelingt, mir seinen Kopf zu bringen, wird zu meinem Stellvertreter ernannt werden.« Die Sellag, die bisher gebannt den Worten ihres Anführers gelauscht hatten, brachen in tosenden Jubel aus. Die Aussicht, bald stellvertretender Herrscher zu sein, ließ in ihren Augen wilde Gier funkeln.
Herras verstand kein Wort von dem, was Kalerid sagte, und selbst wenn er der sellagischen Sprache mächtig gewesen wäre, hätte er auch kaum Gelegenheit gehabt, der Ansprache zu folgen. Die Wachen befreiten ihn von den schweren Ketten und auch die Hand- und Fußfesseln wurden ihm abgenommen. Dann stießen sie ihn vom Wagen. Durch das lange, bewegungslose Ausharren fehlte ihm jedes Gefühl in den Beinen und er fiel haltlos wie ein Stein ins Gras. Während sie ihn brutal auf die Füße rissen, konnte Herras einen Blick nach Westen werfen, wo in weiter Ferne Alland Pera auf dem sanften Hügel, der das Land überragte, zu erkennen war. Noch vor kurzer Zeit musste es ein herrlicher Anblick gewesen sein, die Stadt von diesem Ort zu betrachten, und Herras wünschte sich, er hätte ihn zumindest einmal in seinem Leben genießen können. Jetzt war nichts mehr von der strahlenden Pracht übrig geblieben. Grauer Dunst umhüllte die verbrannten Gebäude und ließ die Stadt unwirklich erscheinen. Der Schmerz, den er verspürte, als sich die langen Krallen der Sellag-Wachen in seine Oberarme bohrten, riss ihn aus seinen Gedanken und brachte ihn wieder in seine eigene harte Realität zurück. Die beiden Sellag stützten ihn widerwillig, nur um zu verhindern, dass er wieder das Gleichgewicht verlor, während Kalerid seine letzten Worte sprach.
Eine weitere Handbewegung folgte und die Wachen drängten Herras näher an den Wald heran, bis er direkt an dessen Rand stand, dort wo das weiche Gras von herabgefallenem Laub bedeckt wurde. Sein Blick war dem tiefen Dunkel zugewandt, das vor ihm lag und er gewann den Eindruck, dass der Wald ihn verschlingen würde, sobald er auch nur einen Fuß hineingesetzt haben würde. Im Vergleich zu dem hellen Sonnenschein, der die gesamte Wiese erfüllte, schien der Wald wie eine düstere Höhle, in der die Gefahren nur darauf warteten, über das erste lebende Wesen herzufallen, das es wagte, in ihn vorzudringen.
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