Nut spannte bereits ihren Sternenkörper über der Wüste aus, als Sary die kleine Kapelle erreichte, welche über dem Grab seines Bruders errichtet worden war. Wie in jeder Nilschwemme um diese Zeit wollte er allein mit Ameni sein, seinem zornigen Ach Speise und Trankopfer darbringen und den Schwur erneuern ... seinen Schwur auf Rache und Vergeltung.
Sary betrat die Kapelle, in der es so heiß und stickig war, dass er kaum atmen konnte. Staub und Sand wirbelten auf, da niemand außer ihm diesen Ort besuchte ... auch Amenis Geliebte nicht, die längst in den Armen eines anderen lag. Der zerschundene Leib Amenis ruhte tief unter dem Boden der Kapelle in seiner kühlen Grabkammer mit Leinenbinden umwickelt in einem Sarkophag aus Zedernholz – Hatschepsut hatte keine Kosten für die Grablegung ihres Geliebten gescheut ... und ihn dann für immer vergessen.
Mit vor Zorn zitternden Händen entzündete Sary eine Wandfackel und betrachtete eine Weile die Licht-und Schattenspiele auf den Lehmziegelwänden. Dann öffnete er das Wachssiegel des mitgebrachten Weinkruges und wickelte das Brot aus dem Leinentuch.
Was nutzte seinem Bruder die beste Grablegung, wenn er ohne Augen, Zunge, Lippen und Nase durch die jenseitige Welt irren musste? Sary ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf dem gestampften Boden nieder und betrachtete die gegenüberliegende Wand ... jene Wand, vor der Amenis Ach stand und ihn stumm aus leeren Augenhöhlen anstarrte.
„Ich habe mein Versprechen nicht vergessen, Bruder“, flüstere Sary, während er die Hälfte des Weines auf dem Boden vergoss und dann den Krug an seinen Mund setzte, um selbst einen großen Schluck zu nehmen. „Wir müssen warten, bis der Knabe alt genug ist ... das goldene Schweinchen mag ein ebenso schwacher Herrscher werden, wie sein Vater es war, doch er ist der Falke, und es ist Maat, dass er die Kronen trägt.“
Amenis Ach regte sich nicht, er stand nur da und starrte ihn an ... das tat er, seit er ihm das erste Mal erschienen war. Sary wusste, es würde nicht verschwinden, bevor er seine Schuld nicht gesühnt hatte. Anfangs hatte er sich vor dem Ach seines Bruders gefürchtet, doch längst war der Anblick ihm vertraut geworden. Ameni war bei ihm ... immer ... an jedem einzelnen Tag seines verfluchten irdischen Lebens.
Von draußen drangen Stimmen in die Kapelle ... die Festprozession hatte sich aufgelöst, und die Menschen liefen singend durch die westliche Wüste, die in den Tagen des Schönen Fests vom Wüstental fast so belebt wie Theben selbst war. In den Tagen des Talfestes kam man nicht hierher, um die Toten zu betrauern, sondern um ihrer zu gedenken und im Kreise der Familie mit ihnen zu speisen.
Sary trank den letzten Rest Wein und spürte, wie sein Kopf unter der goldenen Schädelplatte, die Unesch ihm anstelle des ausgemeißelten Knochens eingesetzt hatte, zu hämmern begann. Bohrende Schmerzen waren das zweifelhafte Geschenk, welches Unesch ihm mit der Öffnung seines Schädels bereitet hatte. Hatschepsut hatte den ehemaligen Leibarzt des verstorbenen Falken bestrafen lassen – mit Stockhieben und dem Verbot, weiter als Sunu und Wab-Sachmet tätig zu sein. Es war eine lächerliche Strafe für die Qualen und Entstellungen, mit denen Sary leben musste.
Er schloss sein Auge und versuchte ruhig zu atmen. Sary konnte ihn nicht ertragen ... den Gedanken an Sie , die in diesem Augenblick über die Terrassen ihres Djeser Djeseru schritt, den Zeremonienbart an ihrem Kinn, Krummstab und Geißel in den Händen haltend, die Doppelkrone auf ihrem Kopf ... Ihr Götter, das könnt ihr nicht gewollt haben! Gepresst flüsterte Sary dem wartenden Ach seines toten Bruders zu: „Wo ist sie an diesem Tag, deine goldene Geliebte, mein Bruder? Keinen Gedanken verschwendet sie an dich, keinen Tropfen Wein. Stattdessen liegt sie in den Armen des Erziehers ihrer Tochter. Das Weib war dein Leben nicht wert. Doch beim zornigen Seth und der großen Neunheit von Theben, ich werde dich rächen, Ameni!“
Hatschepsut trat mit ausgestreckten Armen, vom Standbild Amuns zurück, ohne ihm dabei den Rücken zuzukehren. Das Antlitz des Gottes leuchtete im Schein der Feuerbecken, als lächele es ihr zu – zufrieden über die Ausrichtung des Festes. Sie hatte sich bemüht, ihren Vater Amun zu erfreuen. Dieses Talfest war das Schönste gewesen, das jemals gefeiert worden war, seit Hatschepsut denken konnte. Das war mitunter dem fast vollendeten Millionenjahr-Tempel zu verdanken, dem erstaunlichsten Bauwerk, das je für einen Pharao erbaut worden war. Es war vor allem Senenmuts und Hapusenebs Einfallsreichtum, dem das Djeser Djeseru seinen Glanz und seine unvergleichliche Erhabenheit zu verdanken hatte.
Der Oberste Prophet des Amun reichte Hatschepsut die Fackel, und sie tauchte diese in das bereitstehende Becken mit frischer Milch, wo sie mit einem letzten Aufflackern verlosch. Hatschepsut schloss die Augen und lächelte in sich hinein. Eine Welle aus Erleichterung floss durch ihre Adern und wärmte ihr Herz. Das Schöne Fest vom Wüstental war vorüber und ihr Vater Amun zufrieden.
Während Hatschepsut an der Seite Hapusenebs das Sanktuar verließ, berührte der Oberste Prophet ihren Arm. Hatschepsut blieb stehen, da Hapuseneb sich diese persönliche Geste nur erlaubte, wenn ihm etwas Wichtiges auf dem Herzen lag. „Dein Vater Amun ist zufrieden mit dir ... Kemet erblüht unter deinen goldenen Händen. Doch seit du die Kronen trägst, gibt es keine Gottesgemahlin des Amun mehr. Es ist an der Zeit, dass Nofrure in das Amt berufen wird.“
Hatschepsut blieb stehen und sah ihren ältesten Vertrauten nachdenklich an. Waren die Nilschwemmen so schnell vergangen? War es nicht erst vor wenigen Tagen gewesen, dass Hapuseneb ihr die Doppelkrone auf das Haupt gesetzt und ihr Heka Krummstab und Nechecha Geißel gereicht hatte? In Hapusenebs Gesicht konnte Hatschepsut jedoch sehen, dass es nicht erst vor wenigen Tagen gewesen war. Ein paar mehr Falten im nussbraunen Gesicht hatte der Oberste Prophet Amuns in den letzten fünf Nilschwemmen trotz seiner Beleibtheit bekommen, und Nofrure lief mit ihren acht Sommern längst auf ihren eigenen Beinen, anstatt auf Senenmuts Schoß zu sitzen.
„Amun soll wieder eine Gottesgemahlin an seiner Seite haben, Hapuseneb“, stimmte Hatschepsut zu. „Ich werde Nofrure im nächsten Mondumlauf nach Karnak bringen, damit sie die Weihen erhält.“
Hapuseneb deutete eine Verbeugung an. „Du bist weise, Horus, und mächtig an Ka-Kräften“, verfiel er in einen förmlichen Tonfall, denn sie hatten den Ausgang der Kapelle erreicht.
Hatschepsut übergab zwei wartenden Priestern die verloschene Fackel und trat, gefolgt von Hapuseneb, an den Rand der obersten Terrasse, wo ganz Theben sich versammelt zu haben schien, um seinen Pharao zu ehren. Amun, mein Vater ... betete Hatschepsut stumm in Gedanken, während sie die Arme hob, um ihre Mutter Nut, den Nachthimmel zu grüßen. Bist du zufrieden mit deiner Tochter, die du über die beiden Länder herrschen lässt nach deinem Willen?
Obwohl Hapuseneb ihr davon abgeraten hatte, dem Volk die mächtigste Form der göttlichen Erscheinung ihres Pharao zu offenbaren, trug sie den Pschent – die weiße und rote Doppelkrone Ober- und Unterägyptens und das Leopardenfell des Obersten Priesters über der Schulter sowie den Zeremonienbart. Nach ihrem Willen brannten unzählige Feuerbecken auf der obersten Terrasse des Tempels, die sie in goldenes Licht tauchten.
Während Hatschepsut die Macht der Kronen durch ihren Körper fließen ließ, warfen die Priester metallhaltige Pulver in die Feuerbecken, sodass alle Flammen gleichzeitig emporschnellten und die Osirisstatuen an den Säulenkapiteln in blendendes Licht tauchten, als sende Amun selbst dem Pharao seinen Gruß.
Tausend Stimmen erhoben sich aus dem Tal und stiegen zu ihr hinauf, um sie zu preisen ... „Der Falke ist erschienen ... Herr allen Lebens ... möge sie ewig leben!“
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