»Ich war aber mit dem Niemand in der Kiste. Ich liebe diesen Niemand. Und wenn du das so siehst, dann packe ich meine Siebensachen und du siehst uns beide nie wieder. Willst du das, Pa?« Nikoma zuckte zusammen. Er betete inständig, dass Cat besser log, als ihm lieb war. Einige Zeit später öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer einen Spaltbreit. »Nikoma? Schläfst du schon?«, durchdrang ihre Stimme leise die Dunkelheit des Zimmers. Den Atem eines Schlafenden imitierend, verharrte er regungslos, mit wild pochendem Herzen, bis sie endlich verschwand und friedliche Stille in das Haus einkehrte. Das Schicksal war ihm, zumindest was sein Zimmer anbelangte, hold. Ebenerdig gelegen, gelangte er ohne große Probleme aus dem Fenster. Auf wackeligen Beinen, von Schatten zu Schatten flüchtend, bewegte er sich zur Landzunge unterhalb von Dunvegan Castle. Gespenstisch in silbernes Mondlicht gehüllt, tauchte das Steinerne Tor vor ihm auf. Nikoma traten Tränen in die Augen. Wie von selbst bewegten sich seine Beine, auf die Tür in sein altes Leben zu, um dann inmitten des Bogens den Dienst zu verweigern und unter ihm zusammenzuklappen wie trockenes Holz. Ihm war, als müsse die Zeit still stehen. Alle seine Sinne tastend ausgestreckt, fühlte er nichts, nichts außer sein bersten wollendes Herz und den Hunger in seinen Eingeweiden. Stur zwang er sich, aufzustehen und durch den verheißungsvollen Torbogen zu wanken. Immer und immer wieder versuchte er sein Glück. Doch die Tür in seine Heimat blieb für ihn verschlossen. Warum blieb es ihm verwehrt, nach Fenmar zurückzukehren? Was war geschehen? »Göttliche Blume, lass sie die Schlacht nicht verloren haben. Lass nicht zu, dass alles, was ich tat, umsonst war!«, wisperte er flehend.
Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt? Möglicherweise mochte es auch an seiner schlechten körperlichen Verfassung liegen, dass ihm das Tor den Zugang verweigerte? Schließlich war er ein Schatten seiner Selbst. Aber was war, wenn dies seine Strafe war für all das, was er getan hatte? »Ich werde nichts bereuen. Hörst du? Dazu bringst du mich nicht! Bei der Göttlichen Blume, ich habe alles gegeben, was ich geben konnte. Selbst mein Leben, Teile meiner Seele und meiner Unsterblichkeit«, stieß er voller Bitterkeit aus und stolperte Schritt für Schritt die Küste entlang, auf der Suche nach Nahrung. Ein Rind und zwei Schafe später, hatte er genug Kraft, um sich, zum allerersten Mal in dieser Welt, zu verwandeln. Die Instinkte des Wolfes waren bestens ausgeprägt und er fand zielsicher zu der Fleischfabrik, wo er sich ausgiebig an den Abfällen labte, so dass er fast alle seine Kräfte zurückerlangte.
Entschlossen klopfte Sarah MacCrimmon an die geschlossene Tür des Gästezimmers, aus der kein einziger Laut an ihre Ohren drang. »Mum, das ist wirklich peinlich, was du da tust. Warum kannst du nicht warten, bis er von selbst aufgestanden ist?«, versuchte Cat, an die Vernunft ihrer Mutter zu appellieren, doch es war vergebliche Liebesmühe. »Mr. Raven, sind Sie wach?«, ignorierte ihre Mutter all ihr Flehen, öffnete bereits uneingeladen die Tür. Der Fremde saß im Bett und sah aus wie jemand, der gerade eben erst aufgewacht war. Die pechschwarzen Haare waren zerzaust, die Ringe unter den Augen jedoch waren verschwunden. Alles in allem wirkte Nikoma Raven wie das blühende Leben, sah noch besser aus, als bereits auf ihrer Herfahrt. Vor allem wenn man bedachte, wie er noch in der Nacht zuvor ausgesehen hatte. »Ist Ihnen das nicht zu kühl, mit dem geöffneten Fenster?«, fragte ihre Mutter, den Blick auf die sich im Wind aufblähenden Vorhänge des Fensters gerichtet. Ihre Mutter konnte nicht verhindern, dass man ihrer Stimme das Unbehagen über diese Situation anhörte. »Nein. Ich schlafe immer bei offenem Fenster. Ich liebe den Geruch nach frischer Luft«, erklärte Nikoma, während er ohne Scham die Bettdecke zurückschlug, so dass sein muskulöser nackter Oberkörper zum Vorschein kam.
Cat, hatte das Gefühl, ihr Herz wolle aussetzen, so sehr machte ihr der Anblick der Tattoos zu schaffen. Irritiert von dem Gefühlschaos in ihrem Inneren, drehte sie sich auf dem Absatz um. Zielsicher legte sie die mitgebrachte Kleidung auf einem Stuhl ab. Ihre Mutter schien sich weniger an der seltsamen Situation zu stören, als sie selbst es tat. Ohne zu zögern, trat sie auf den Mann zu, griff nach seinem Handgelenk, um den Puls zu kontrollieren. »Sie sehen mich tatsächlich vollkommen verblüfft, Mr. Raven. Nach Ihrem Verschwinden aus dem Krankenhaus hatte ich eine Verschlechterung Ihres Gesundheitszustandes erwartet.«
»Habe ich Sie jetzt enttäuscht, Sarah?«, antwortete Nikoma, mit einem so süßen Lächeln um die Mundwinkel, dass es Cat fast nicht gelang, den seltsamen Kloß in ihrem Hals hinab zu schlucken. Dem elenden Kerl schien diese Situation scheinbar auch noch Spaß zu bereiten. »Ihre Blutwerte waren nicht in Ordnung. Irgendetwas muss sie verunreinigt haben. Es wäre nicht schlecht, wenn ich Ihnen zu Ihrer eigenen Sicherheit noch einmal Blut abnehmen dürfte!« Im Lehrton, und professionell wie eh und je, überging ihre Mutter die kleine Provokation des Fremden.
»Ich habe dir ja gleich gesagt, dass es meinem Schatz bereits besser geht, Mum. Vielleicht kannst du ihn jetzt endlich mit deiner Fürsorglichkeit in Ruhe lassen!«, griff sie in das Gespräch ein, bevor es außer Kontrolle geraten konnte. Dabei durchquerte sie das Zimmer, um sich demonstrativ neben Nikoma auf das Bett zu setzen. Da die erwartete Wirkung ihr zu lange dauerte, reizte sie ihre Mutter noch ein bisschen mehr, indem sie sich mit funkelnden Augen an den nackten Oberkörper des Fremden schmiegte wie eine Katze. Erschreckenderweise fiel es ihr überhaupt nicht schwer, eine Verliebte zu mimen. Trotzig hielt sie dabei dem verbissenen Blick ihrer Mutter stand, bis diese die Tür energisch hinter sich ins Schloss fallen ließ.
»Hast du Hunger? Ich könnte dir etwas zum Frühstück bringen, bevor ich dir die Umgebung zeige«, erklärte sie übertrieben fröhlich, wobei sie seinen fragenden Augen auswich. »Warum tust du das für mich, kleine Càtroina? Du erfindest Lügen, um mich zu schützen, was dich ehrt. Du verärgerst deine Eltern, was hingegen überhaupt nicht in meinem Sinn ist. Dir dürfte doch völlig klar sein, dass du mich keineswegs kennst. Ich habe keinerlei Interesse an dir, Mädchen!«, erwiderte der Fremde melancholisch und schob sie weg, um aufzustehen. Es schien ihn nicht zu stören, dass er keinen einzigen Faden auf seinem, wie sie neidlos zugeben musste, makellosen Körper trug. Angestrengt bemühte Cat sich, das Kinn emporzuheben, anstatt den Tattoos über den Sixpack in ganz andere Gefilde zu folgen. Sie bildete sich ein, sein tiefes Lachen zu hören, obwohl er sie nur grinsend betrachtete. »Hast du ein Problem, Kleines?«, fragte er, und sah sie mit seinen unergründlichen grünen Augen provozierend an. Sie schluckte. Brachte lediglich ein brüskiertes Krächzen zustande. Eine Antwort blieb sie ihm schuldig, stürmte stattdessen wie vom Teufel verfolgt aus dem Zimmer.
In den Gedanken des Mädchens ging es drunter und drüber. Vielleicht hätte er sie nicht mit seinem Körper reizen sollen. Das hatte sie nach all ihrer Hilfe wahrlich nicht verdient. Nicht, nachdem ihre Gefühle für ihn leuchteten wie diese fürchterlichen Reklameschilder, die sie ihm auf der Autofahrt erklärt hatte. Ein einziges Fingerschnippen und sie wäre willig in seinem Bett gelandet, das war ihm völlig klar. Immerhin erfuhr er aus ihren Gedanken, dass er sich beim Chief des Clans MacLeod auf Dunvegan Castle als Mädchen für alles, was auch immer das war, melden sollte. Um Beth Càtroinas MacCrimmons willen, hätte er gehen sollen. Er hätte die Beine in die Hand nehmen sollen, um so schnell zu rennen, wie es sein Zustand erlaubte. Die Gefühle, die sie für ihn empfand, waren nicht gut, für keinen von ihnen beiden. Tief in seinem schwarzen Herzen spürte Nikoma, dass er eine Gefahr für diese unschuldige junge Frau darstellte. Vielleicht ging die Bedrohung aber auch von ihrer Unschuld aus? Irgendetwas regte sich in der Schwärze seines Seins. Cat gelang es, an etwas tief in ihm Verschollenen zu rühren, das er längst vergessen glaubte. Sie hauchte ihm Leben ein, gleich einer Glut, welche sich nur langsam vom Sauerstoff nährte. Auf eine seltsame, beunruhigende Art und Weise fühlte er sich außerdem mit Isa und Ian verbunden. Dies war nicht seine Welt. Nicht einmal sein Land. Kein Schwur und keine Prophezeiung banden ihn an dieses Jahrhundert. Sein ganzes Bestreben musste es sein, zurück nach Fenmar zu gelangen. Warum begehrte er dann plötzlich das Wissen um diesen Clan und seine Angehörigen?
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