»Wir sind ein ziemlich rückständiges Dorf mit, ihr würdet es ärmliche Verhältnissen nennen«, antwortete er ausweichend. »Na ja, bei uns hier auf Skye ist auch nur in den Touristen-Monaten richtig was los, wie du sicherlich bereits bemerkt haben dürftest«, erklärte sie ihm im Lehrton. »Ich glaube, ich mach dir mal kurz das Fenster auf. Du bist nämlich irgendwie ganz grün um die Nase.« Fast wäre ihm ein lautes Knurren entwichen, als das Fenster neben ihm sich plötzlich nach unten bewegte und im Unterteil der Wand verschwand. Zurück blieb eine Öffnung, durch die ihm die kalte Nachtluft um die Nase wehte. »Danke«, murmelte er, die klare, kühle Luft begierig inhalierend. Für wenige Minuten erlaubte Nikoma sich, einfach die Augen zu schließen. Keine Gedanken, keine zu analysierenden Geräusche oder Gerüche. Dummerweise verflogen diese Minuten zu schnell, und lösten sich mit der Witterung von frischem Blut in Wohlgefallen auf. Das hungrige Knurren, das ihm entwich, ging zum Glück im Lärm unter, der, wie aus dem Nichts, im Auto erscholl. »Oh, entschuldige bitte. Ich hab vergessen, wie laut Mum immer die Red Hot Chilli Pipers hört. Das sind mehrere Dudelsäcke, also Musikinstrumente. Ich mach das Fenster lieber zu. Der Wind weht aus Richtung der großen Schlachtfabrik. Mir persönlich tun die ganzen Schafe und Rinder ja leid, die dort landen. Leider esse ich aber zu gerne Fleisch, um zur Vegetarierin zu werden. Und du, Nikoma Raven? Wie sieht es bei dir aus? Du bist doch kein Veggie, oder?« Wer oder was, zum Teufel, war ein Veggie? In Gedanken sah er sich bereits an ihrer Halsschlagader nuckeln wie ein kleines Baby.
Redeten in diesem Zeitalter alle Frauen so viel? Gegen dieses Mädchen erschien ihm selbst Isandora plötzlich als wortkarg. »Also magst du Fleisch?«, hakte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag nach. »Ja, ich mag Fleisch. Und es darf ruhig blutig sein«, antwortete er sarkastisch, wobei er hinter vorgehaltener Hand die Augen genervt verdrehte. Sie hatte die Augen wieder konzentriert auf die Straße gerichtet, die, allem Anschein nach, auch in dieser Welt nicht wirklich besser waren, als in seiner eigenen. Was ihn dazu bewog, sie genauer zu beobachten. Nervös spielten ihre Zähne mit dem seltsamen Ring in ihrer Unterlippe. Wie konnte man solch ein hübsches Paar Lippen derart verunstalten? Ohne die viele schwarze Schminke könnten diese unverschämt blauen Augen regelrecht anziehend wirken, stellte er fest. Um sich abzulenken, blickte er aus dem Fenster, wo das Mondlicht die spektakuläre Aussicht in Silber tauchte. Seine scharfen Falkenaugen nahmen jede noch so winzige Kleinigkeit wahr.
Die Umrisse des Steinernen Tores traten so plötzlich in sein Sichtfeld, dass er das unbestimmte Gefühl hatte, sein Herzschlag müsse aussetzen. Wie Isa und Ian es ihm beschrieben hatten, lag es malerisch am Strand, unterhalb eines imposanten Gebäudes aus Wehrmauern und Stein. Dabei musste es sich wohl um Dunvegan Castle handeln.
Alana warf die unschuldig weiße Porzellanvase mit solch einer Gewalt gegen die Wand, dass das zarte Kunstwerk in kleinste Splitter zersprang. »Wage es noch ein einziges Mal, mir so etwas ins Gesicht zu sagen und du bist tot, Ginger«, drohte sie dem jungen Mann, dessen einzige Farbe sein roter Haarschopf zu sein schien. »Verzeiht mir, Mylady. Ich flehe Euch an.« Voller Abscheu betrachtete sie den menschlichen Abschaum, der greinend, mit ekelerregenden Rotzblasen, zu ihren Füßen kauerte, wo er sich hin und her wiegte, wie der vom Sturm gepeitschte Schössling eines Baumes. Kopfschüttelnd trat sie mehrmals mit den Füßen auf den schmächtigen, ganz in schwarz gekleideten Körper ein.
»Ist dir nicht klar, Ginger, dass es inakzeptabel für mich ist, was du mir versuchst vorzusetzen?« Alana ließ von dem jungen Mann ab, lauschte dem Rascheln ihrer ungewohnten Kleidung. Der Bleistiftrock schmiegte sich bei jedem Schritt an ihre langen Beine, während der Unterrock diese seltsamen Geräusche von sich gab. Am Fenster hielt sie inne, blickte hasserfüllt auf die belebte Royal Mile hinab. »Der Letzte schmeckte wie ein toter Köter. Ich will sie frisch. Frisch, saftig, unschuldig und voller Leben, du Kretin!« Sie durchmaß den Raum so schnell, dass es mit bloßem Auge kaum wahrgenommen werden konnte. Mit Präzision schlug sie ihre Tentakel so fest in das Fleisch des Mannes, dass ihr schwindelte. Verflucht, sie vergaß immer wieder, dass sie sich ihre Kräfte einteilen musste. Erschwerend kam hinzu, dass sie diesem menschlichen Abschaum nicht alles Leben und Blut nehmen durfte. Unglücklicherweise war sie auf diesen Kerl angewiesen. Alana war diese seltsame neumodische Welt mit jeder Faser ihres Seins zuwider. Weder kannte sie die Sitten und Gebräuche, noch war sie im Vollbesitz ihrer Kräfte.
Dieser elende Formwandler. Ihm und diesem Schotten hatte sie zu verdanken, dass sie gefallen war. Gefallen ins Nichts. Der Gezeitennebel hatte sie geschluckt, zermalmt und einen kläglichen, winzigen Rest von ihr wieder ausgespuckt. Elfenspie und Skrekblutdreck! Es mochte ewig dauern, bis sie wieder mächtig genug sein würde, um eine Rückkehr zu versuchen. Sie kannte diese Welt viel zu wenig. Ginger hatte sie zu verdanken, dass sie sich innerhalb der zwei Monate ihres Hierseins bereits einen Namen als Domina und mehrere Männer sowie Frauen der Menschenrasse zu ihren unterwürfigen Sklaven gemacht hatte. Edinburghs Nachtleben, und das von Glasgow, waren voll von armen Idioten, die den Kick in schwarzen Messen, lächerlicher Laienmagie, Friedhofs-Gothic und verdorbenem Sex suchten. All die Straßen, all die Gassen, waren verstopft mit potenzieller Nahrung. Zu ihrem Leidwesen hatte sie allerdings sehr schnell feststellen müssen, dass blutleere Leichen für Aufsehen sorgten. Seither besorgte Ginger mit seinen Helfern ihr Obdachlose, Junkies und den Abschaum der Straßen. Wie früher die Body Snatcher, Burke und Hare, machten sie sich die verlassenen Southstreet Vaults und die angeblich heimgesuchten Krypten der Friedhöfe zunutze, um die Leichen zu entsorgen. Alana hatte es so satt. Seit dem gestrigen Tag hatte sich jedoch etwas Entscheidendes geändert. Wie den Flügelschlag eines Falters hatte sie ihn gefühlt. Nikoma der Formwandler war ebenfalls in dieser Welt gestrandet. Wusste er, dass sie hier war? Hatte auch er ihre Anwesenheit spüren können? Koste es, was es wolle, sie würde ihn finden. Und wenn dieser Tag kam, würde sie ihn quälen, ihm all seine Kraft aussaugen. Es dürstete sie nach Vergeltung für all den Dreck und den Abschaum, von dem sie zu leben gezwungen war. Alana würde durch das Steinerne Tor, wo auch immer es sich befand, nach Fenmar zurückkehren und alle in die Hölle befördern, die Schuld an ihrem verhassten Dasein waren. Zu allererst würde sie sich dieses Menschenweib, Isandora, holen und deren Brut ein für alle Mal auslöschen.
Das Mädchen tat ihm fast schon wieder leid. Selbst durch die geschlossene Tür des Zimmers konnte Nikoma sie mit ihren Eltern diskutieren hören. Unruhig bewegte er sich in der seltsamen Bekleidung im Zimmer auf und ab. Sie war wirklich wie eine Katze. Eine Raubkatze. Vor seinem inneren Auge verwandelte Cat sich in einen Puma. Anmutig, schnell und durchaus tödlich. Für einen winzigen Moment zuckten seine Mundwinkel zu einem Lächeln.
»Càtroina, wie stellst du dir das vor? Dein Freund hat weder Papiere noch sonst etwas, um sich auszuweisen. Wie soll er denn seinen Unterhalt verdienen? Ich traue ihm nicht über den Weg!«, konnte er Ians Freund Colin zetern hören und beglückwünschte den Mann im Stillen für seine gute Intuition. »Er ist Ians Freund, so wie du seiner warst, Pa. Du kannst ihn nicht einfach auf die Straße setzen. Und wenn du den Chief fragst? Auf Dunvegan gibt es doch immer genügend zu tun und Ians Stelle wurde doch nicht mehr besetzt ...« Die Kleine legte sich ganz schön für ihn ins Zeug. Das musste man ihr zugutehalten. »Hörst du dir eigentlich auch mal selber zu, Càtroina? Ich kann doch den Clan Chief nicht um so etwas bitten! Der Kerl ist mit keinem unserer Clans verbunden. Er ist noch nicht einmal ein Schotte! Er ist ein Niemand!«
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