»Mum, ich glaube, er kommt zu sich!«, erklang es erneut zu nahe und eine warme Hand legte sich an seine Wange. »Hallo, Raven. Schön, Sie wieder bei uns zu haben. Ich habe Ihnen eine Spritze zur Stärkung gegeben und Sie hängen an einem Tropf mit Kochsalzlösung. Mein Name ist Sarah MacCrimmon. Ich bin Ihre behandelnde Ärztin.« Was zum Teufel war eine Ärztin? Lag es an seiner Unterernährung, dass er sich so schwach fühlte? Sein Kopf pochte beständig vor Schmerzen. Zu viele unbeantwortete Fragen und überstrapazierte Sinne geisterten durch jede Windung seines Seins. Endlich gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Zuerst schien die Frau, die sich mit Sarah MacCrimmon vorgestellt hatte, regelrecht zu leuchten. Doch nach einigen Sekunden hatten sich seine empfindlichen Falkenaugen an das grelle Neonlicht gewöhnt. Die Panik in seinem Inneren war fast übermächtig. Zu schwach um zu fliehen, war er gezwungen, widerstandslos der Dinge zu harren, die auf ihn zukamen. Begriffen diese törichten Menschen nicht, wen oder besser gesagt, was sie vor sich hatten? Allem Anschein nach nicht. Denn würden sie wissen, mit was für einer Spezies sie es zu tun hatten, würden sie sicherlich nicht seine Fesseln lösen, oder? Genau das tat die Frau jedoch mit einem aufmunternden Lächeln im Gesicht. Sie, die sich als Ärztin vorgestellt hatte, löste diese seltsamen Fesseln, die seine Arme und Beine festgehalten hatten, während das seltsame Mädchen unablässig auf ihn einredete und über sein Haar strich. Bar jeglicher Vernunft beruhigte ihn ihr Tun sogar. Nikoma wünschte sich nur, er hätte ihre pulsierende Halsschlagader nicht direkt vor Augen. Hunger und Blutdurst fraßen ihn von innen heraus auf.
»Ist schon gut, Raven. Ich bin ja bei dir!«, hauchte das Mädchen und er schloss erneut ergeben die Augen.
»Wir werden immer Vampire sein, Bruder. Eines fernen Tages wirst du bereuen, so gelebt zu haben, wie du gelebt hast. All die zerbrechlichen Geschöpfe, die nur dazu dienen sollten, unsere Gelüste zu befriedigen. Sandkörner im Wind der Zeit ...« Nikoma konnte Anuks Stimme, die Stimme seines Zwillings-Bruders, so klar und deutlich hören, als stünde er neben seinem Bett. Was auch immer sie ihm gegeben hatten, es pulsierte wie Gift durch seine Adern, durch jede Vene, beherrschte sein Denken. Der köstliche Geruch und die warmen Körper der Menschen, ließen ihn die Zähne voller Gier fletschen. Das Raubtier in seinem Körper brach aus. Voller Anmut, und doch mit tödlicher Präzision, zog er binnen Sekunden das Mädchen zu sich und grub die Zähne bis zum Anschlag in ihre Halsschlagader. Warmes Blut spritzte durch den Raum. Die Ärztin schrie bei dem Anblick gellend auf, doch noch, bevor der Körper des Mädchens zu Boden gesunken war, hatte er ihrer Mutter bereits das Genick gebrochen und im Blutrausch ihr komplettes Blut getrunken. Der rote Saft des Lebens und Leichen kennzeichnete seinen Fluchtweg aus dem Krankenhaus.
Nikoma schrak durch seinen eigenen entsetzten Schrei aus seinem Albtraum auf. Inschala sei ihm gnädig. Er musste hier weg, bevor er Unschuldigen das Leben nahm. Was auch immer diese Ärztin seinem Körper gegeben hatte, zumindest hatte er nun Kraft genug, um sich zu bewegen. Seinen zitternden Fingern zum Trotz gelang es ihm, all die seltsamen Schläuche aus den Armen zu reißen. Obwohl vor dem Fenster augenscheinlich die Nacht anbrach, leuchteten in seinem Raum kleine Lichter, die seine ungewohnte Umgebung in diffuses Licht tauchten. Sanft berührte er eines davon mit der Fingerspitze. Seltsam, es war nicht wirklich warm. Wie wurden diese kleinen Flammen gespeist und warum fehlte ihnen die Hitze? Noch immer waren seine Sinne in Aufruhr, funktionierten nicht, wie sie sollten. Seine Kleidung war verschwunden, lediglich das Erbstück seiner Familie, eine Brosche lag auf dem kleinen Tisch. Fest schloss er die Hand um diese, drückte so fest zu, dass sich das kalte Metall in seine Haut bohrte. Er konzentrierte sich auf diesen pulsierenden Schmerz, um den Hunger aus zu blenden. So war er gezwungen, in dem seltsamen weißen Kleid, welches hinten offen war, die Flucht anzutreten. Schwankend gelangte er zur Wand, an der er sich entlang hangelte. Wehrlos wie ein Neugeborenes, die Zähne gebleckt und den verlockenden Geruch nach Blut in der Nase, zwang er sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Magen und sämtliche Eingeweide rebellierten in seinem Inneren. Gierten nach Nahrung. Warum strafte die Göttliche Blume ihn so sehr? Wie ein hungriger Wolf in einer Herde voller Schafe, so fühlte er sich. Hatte er nicht alles getan, was ihm möglich gewesen war, um die Prophezeiung zu erfüllen? Er hatte den größten Teil seiner Unsterblichkeit aufgegeben, den Verlust eines Teils seiner Seele und seines Herzens in Kauf genommen. Er, Nikoma, einstiger Erbe der Krone der Formwandler, hatte auf den Thron verzichtet, um sein Leben für die Hoffnung Fenmars zu geben. War dies nun der Dank dafür? »Oh Isa. Ich bereue nicht, was ich für dich getan habe«, wisperte er. Selbst der einzelnen Tränen schämte er sich nicht. Vor ihm tauchte eine Wand aus kühlem, glattem Material auf, die ihm den weiteren Weg versperrte. Nikoma war gefangen. Plötzlich vernahmen seine gespitzten Ohren lachende Stimmen und das Geräusch von Schritten, die immer näher kamen. Verflucht, er durfte nicht entdeckt werden. Nicht jetzt, nicht in diesem erschreckend wehrlosen Zustand. Panisch suchte er nach einer Waffe. Ohne Erfolg. In einer Ecke entdeckte er ein seltsames Gefährt, hinter dem er notdürftig Deckung fand. Ein
Surren erklang, und die Wand bewegte sich zur Seite, wobei sie zwei ins Gespräch vertiefte Frauen in langen weißen Kitteln ausspuckte. Ohne ihn zu entdecken, entfernten die beiden Frauen sich von ihm. Nikoma überlegte nicht lange, einmal mehr die wenige Kraft mobilisierend, zu der er noch fähig war, gelang es ihm gerade noch, den Durchgang zu passieren, bevor dieser sich wieder schloss.
Um sich über dieses Dämonenwerk zu wundern, blieb ihm keine Zeit, da im nächsten Korridor mehr los war. In einiger Entfernung durchschritten Menschen geschäftig den Gang. Das Mädchen mit dem Namen Cat lag zusammen gesunken auf einer Art Bettstatt, in seiner unmittelbaren Nähe. Der weite Ausschnitt ihrer Kleidung gab den Blick auf einen hellen, anmutigen Hals frei, der ihn schmerzlich an Isandora erinnerte. Klar und deutlich vernahm er das Pochen ihres Herzens, das Blut, welches gleichmäßig durch ihre Venen und Adern pulsierte. Vielleicht hatte er unbewusst ein Geräusch von sich gegeben, er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Dennoch trafen seine Augen jäh auf das ozeantiefe Kristallblau ihrer Iris, die sich alarmiert zu verdunkeln schienen. Jetzt konnte er sich selbst vor Blutdurst knurren hören. Das Raubtier in ihm war kaum noch zu bändigen. In seiner Not warf er sich gegen etwas, das zumindest eine Ähnlichkeit mit den ihm bekannten Türen hatte. Es war tatsächlich eine, und diese gab so schnell nach, dass der Schwung seiner Schritte ihn ungelenk die ersten Stufen einer Treppe hinabstolpern ließ. Ungebremst prallte er gegen eine Wand. Die Treppe verlief in einer Art Schacht nach unten und er konnte nicht erkennen, wo sie endete. Doch ihm blieb keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen oder auf weitere Schmerzen zu reagieren. Zu nahe waren ihm seine Verfolger. Über ihm erklangen bereits rasch näher kommende Schritte. Seine Schmerzen missachtend, packte er in einem Akt purer Verzweiflung das Geländer der Treppe mit beiden Händen und holte Schwung.
Ein Geräusch wie aus einem der Horrorfilme, die ihr Bruder ihr regelmäßig aufzwang, weckte Cat aus einem seltsamen Albtraum. Ihr Onkel Ian stand hinter dem Steinernen Tor am Strand und winkte ihr zu. Sie war sicher, dass er ihr etwas Wichtiges zu sagen versuchte, doch sie konnte ihn partout nicht verstehen. Als sie die Augen öffnete, starrte sie direkt in die weit aufgerissenen, leuchtend grünen Augen des Fremden. Wie konnte ein Mensch nur über so unnatürlich grüne Augen verfügen? Sie hätte schwören können, dass er sie angeknurrt hatte. Im nächsten Moment war er, mit wehendem Krankenhauskittel, der einen wirklich entzückenden Einblick auf einen verflucht sexy tätowierten Hintern gegeben hatte, ins Treppenhaus verschwunden. War der Kerl übergeschnappt? Selbst einem Laien fiel auf, dass der Mann einen ungesunden grauen Hautfarbton hatte und dass er stark schwitzte, obwohl die Räume hier alle gut klimatisiert waren. Ohne groß nachzudenken, rannte sie hinter ihm her. »Raven? Raven, du kannst doch nicht in deinem Zustand wegrennen!«, rief sie ihm hinterher, bis ihr einfiel, dass sie ja nicht einmal eine Ahnung hatte, wie der Kerl wirklich hieß.
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