Knirschende Schritte näherten sich ihm in gemächlichem Tempo. Leider war er außerstande, sich zu verstecken oder wegzubewegen. Entkräftet sank er zurück auf den Strand. Ein sorgenvolles »Hallo?«, gefolgt von einem Räuspern, ließ ihn erneut die Augen aufschlagen. Er sah an festen Schuhen, nackten, mit fremden Tribal tätowierten Waden und einer ausgefransten Hose empor. »Entschuldigen Sie bitte, Mister, aber ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, sagte die seltsam anmutende Gestalt eines jungen Mädchens, das sich zu ihm hinab beugte, um sachte Haare und Algen aus seinem Gesicht zu wischen. Statt einer Antwort kam nur ein gequältes Stöhnen über seine Lippen. Resoluter als man ihrem dünnen Körperbau ansah, griffen die Arme des Mädchens unter seine Achseln, zogen ihn vom Wasser weg. »Mein Name ist Beth Càtroina MacCrimmon, aber sagen Sie ruhig Cat, das tun eh alle. Haben Sie sich verletzt? Sind Sie mit einer Fähre gekentert oder von Bord gefallen? Sie sehen aus, wie einer von dem Gothic-Event in Edinburgh. Keine Sorge Mister, ich hatte erst einen Rote-Kreuz-Kurs«, plapperte sie munter, ohne Luft zu holen, weiter. Er konnte nicht aufhören, in das hübsche Gesicht mit den funkelnden blauen Augen zu starren, das von blondem, für ein Mädchen viel zu kurzem, lockigem Haar umrahmt wurde. Kannten sie hier keinen Anstand? Wieder glitt sein Blick zu der bloßen Haut. Was sollten diese Tätowierungen bedeuten? Gesittete Kleidung schien es hier ebenfalls nicht zu geben. War dieses junge Mädchen vielleicht eine Amazone? »Wo bin ich«, presste er krächzend hervor, erntete dafür ein Lächeln, das ihm den Atem rauben wollte. »Machen Sie sich jetzt über mich lustig, Mister?«, antwortete das Mädchen pikiert. Er schüttelte mühevoll den Kopf. »Also, Sie sind in Schottland. Genauer gesagt, unweit von Kyleakin, dort, wo es zur Insel Skye hinübergeht und wo ich mit meiner Familie lebe«, antwortete sie mit durchdringendem Blick. Nikoma kam ein schrecklicher Gedanke. Lichtpunkte tanzten vor Anstrengung vor seinen Augen. »Ian Mac …?«, krächzte er fragend, während er sich auf das fremde glänzende Metall in ihrem Bauchnabel konzentrierte, um nicht ohnmächtig zu werden. »Woher kennen Sie meinen vermissten Onkel, verdammt!«, fragte das Mädchen argwöhnisch. Sie zog ein seltsames Ding aus ihrer Hose. Entsetzt sah er, wie sie mit den Fingern darauf herumtippte. Dann hielt sie den Gegenstand an ihr Ohr. »Pa. Pa, du musst mich schnell holen kommen. Ich habe einen seltsamen Mann gefunden. Der Mann hat nach Onkel Ian gefragt!« »Welches Jahr …?«, flüsterte er, kraftlos vor Entsetzen, während das Mädchen das seltsame Ding wieder in ihrer Hose verstaute. »Wir haben den 16. Mai 2017 …« Er hörte den Rest nicht mehr. Alle Luft wich auf einmal aus seinen Lungen. Der verschwundene Onkel Ian? Göttliche Blume, sei mir gnädig. Ich bin in Isandoras Welt gelandet, durchfuhr es Nikoma, bevor sich der Schleier der Ohnmacht auf ihn legte.
Wieso musste ausgerechnet ihr das passieren? Beunruhigt tasteten Cats Finger nach dem Puls des seltsamen Fremden, den sie gefunden hatte. Wenn sie nur laut genug geschrien hätte, wäre Graham vielleicht zurückgekommen. Leider war ihr dies zu spät eingefallen. Warum hatte sie nicht einfach einen Krankenwagen gerufen? Das wäre doch eigentlich das Logischste gewesen. Sie hatte doch keinen Schock, zumindest fühlte es sich kein bisschen danach an. Außerdem sah der Fremde rein äußerlich nicht schockierend aus. Trotzdem hatte sie nicht so reagiert, wie es sonst ihre Art war. Konzentriert versuchte sie, sich an den Ersthelferkurs zu erinnern, den sie erst kürzlich absolviert hatte. Als wäre es das Normalste der Welt, suchte sie vorsichtig den Mann nach etwaigen Wunden ab, die sie mit dem bloßen Auge übersehen hatte. Fehlanzeige. Der Fremde fühlte sich zwar ziemlich ausgekühlt an und auch sein Puls war beängstigend schwach, dennoch deutete nichts auf Frakturen oder offene Wunden hin. Was, wenn er innerlich verblutete? Ablenkend betrachtete sie die bloße Brust, die von seltsamen Tätowierungen fast zur Gänze bedeckt war. Ebenso war es auch mit dem Rest seines durchtrainierten Körpers. Die Zähne in ihre Lippen gepresst, konnte Cat nicht verhindern, dass ihre Finger sachte die Muskeln seines Sixpacks entlang glitten, als könne sie mit den Fingerspitzen innerliche Blutungen ertasten. Himmel, Cat. Du bist kein Arzt! Woher kannte so ein gefährlich aussehender Typ ihren seit Jahren verschwunden Onkel Ian MacLeod? Gut, Ian war schon immer ein aufgeschlossener und weltoffener Mensch gewesen. Sie konnte sich nur zu gut an seinen trockenen Humor erinnern. Gott, sein Lachen und seine Ratschläge fehlten ihr so sehr! Wie oft war sie sich wie eine wilde Bikerbraut vorgekommen, wenn Ian sie auf seinem Motorrad hatte mitfahren lassen. All die Ausflüge mit der Motocross-Maschine, auf der sie Motorrad fahren gelernt hatte. Als kleines Mädchen hatte sie sich viel zu oft ausgemalt, wie sie ihren gut aussehenden Onkel als erwachsene Frau von seinem gebrochenen Herzen heilen würde. Heimlich hatte sie sogar bereits ihre neue Unterschrift geübt, als Beth Càtroina MacLeod. Natürlich waren das Kleine-Mädchen-Fantasien, aus denen sie lange herausgewachsen war. Nein. Ihr Onkel und dieser Fremde passten überhaupt nicht zusammen. Was, wenn der Kerl etwas mit der rothaarigen Frau zu tun hatte, mit der Ian Mac angeblich durchgebrannt war? »Verflucht, Pa. Wo bleibst du nur?«, stieß sie mit wachsender Verzweiflung aus. Plötzlich keimte eine unerklärliche Angst in ihr auf. Was, wenn der Fremde nicht nur gefährlich aussah, sondern es tatsächlich auch war? Energisch schüttelte sie den Kopf. Nein. Cat war stolz auf ihre Menschenkenntnis und ihre Intuition. Außerdem konnte ein Mann, der so teuflisch gut aussah, dass sie sich bereits vorzustellen versuchte, was für einen Anblick er wohl splitterfasernackt zu bieten hatte, kaum gefährlich sein. Tatsächlich fühlte sie sich auf eine sehr befremdliche Art zu diesem Fremden hingezogen. Andererseits wusste sie nicht, was sie tun sollte, falls er doch das Atmen einstellte? »Lieber Gott. Beruhig dich, Cat. Beruhig dich und setze deinen Verstand ein!«, ermahnte sie sich. Erneut tastete sie nach dem Puls des Fremden, um im Anschluss seinen Kopf in ihren Schoß zu betten. Mehr, um sich selbst zu beruhigen, strich sie sanft über die markanten Wangenknochen und seine langen, pechschwarzen Haare, die durch mehrere breite silberne Strähnen unterbrochen waren. Eine seltsame Moderichtung oder ein neuer Steampunk-Hit? Der Mann hatte so volle Wimpern, dass sicherlich einige Frauen vor Neid erblasst wären.
Keine Minute zu früh fand ihr Vater sie endlich. Leider folgte ihm ihr älterer Bruder auf den Fersen. Auch das noch. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.
Jason, oder Jess, wie ihn Ian immer genannt hatte, war die Vernunft und Strebsamkeit in einer Person. Ihr wenige Sekunden älterer Bruder war schon von klein auf das krasse Gegenteil von ihr gewesen. Das würde noch mächtigen Ärger geben. »Wie kannst du so leichtsinnig sein, einem solchen Kerl beistehen zu wollen? So haben deine Mutter und ich dich nicht erzogen, Beth Càtroina MacCrimmon!«, bestätigte ihr Vater bereits einen Atemzug später ihre Befürchtungen. »Meine Eltern haben mir beigebracht, verantwortungsvoll zu handeln. Der Mann scheint verletzt zu sein und außerdem hat er von Onkel Ian geredet, Pa!«, verteidigte sie ihr Handeln, wobei sie innerlich bereits vor Wut kochte, da ihr Vater den Fremden nicht wirklich zu beachten schien. »Lächerlich. Cat, das ist völlig lächerlich. Der da …«, sagte ihr Vater und streckte den Zeigefinger in die Richtung des Fremden. »… der da ist vermutlich ein zu gedröhnter Junkie. Du nimmst doch keine Drogen, oder? Ist er dein Freund?«
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