Merde. Wenn ihre Mutter herausfand, dass er nicht ihr neuer Freund war und damit nicht genug, dass sie ihn überhaupt nicht kannte, würde diese ihr sämtliche unliebsamen Jobs verschaffen. Oder Schlimmeres. Sie strapazierte die Geduld ihrer Eltern bereits zur Genüge. Womöglich hatte sie jetzt den Bogen überspannt und würde nach einer eigenen Wohnung suchen müssen. »Jetzt bleib doch stehen, Raven!«, flehte sie, um im nächsten Augenblick, wie zur Salzsäule erstarrt, mitten im Schritt zu verharren. Selbst ihr »Nein!«, war kaum hörbar, da ihr regelrecht die Stimme versagte. Mehrmals kniff sie die Lider fest zusammen. Sie musste unter Halluzinationen leiden. Kein Mensch würde vom achten Stock des Treppenhauses freiwillig in den Keller springen. Entsetzt beugte sie sich über das Geländer, wappnete sich gegen den Anblick eines verrenkten Körpers, doch da war nichts. Wie war das möglich? Dafür gab es doch keine logische Erklärung, oder? »Merde. Ich sollte umkehren. Im Horrorfilm erwischt es immer die Neugierigen zuerst«, murmelte sie, nervös von einem aufs andere Bein tretend. Zähneknirschend überlegte Cat, was sie tun sollte. Andererseits war sie so was von im Arsch, wenn es ihr nicht gelang, den Kerl unbemerkt zurück in sein Bett zu bringen. Gedanklich sah sie sich bereits mit einem Koffer unter der Sligachan Brücke schlafen. Für ihren Vater war sie schließlich bereits jetzt eine drogensüchtige Enttäuschung, dabei hatte sie lediglich unbeabsichtigt von diesen Haschkeksen gegessen. Den Rücken an der kühlen Wand, schob sie sich Stufe für Stufe hinab. Bis ihr der Geduldsfaden riss und sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, dem Fremden hinterher eilte. Wusste der Kerl nicht, dass es hier unten nur die Leichenhalle mit ihren Kühlfächern und die Räume der Autopsie gab?
An der Stelle, wo der Fremde aufgekommen sein musste, gab es lediglich drei kleine Blutstropfen.
»Wer bist du? Batman, oder was?« Eigentlich machten ihr die kühlen Räume des Bradford Krankenhauses nichts aus. Sie hatte in der Autopsie sogar ein Praktikum absolviert, das, zum Leidwesen ihrer Mutter, wenig abschreckend auf sie gewirkt hatte. Wenn man es genau bedachte, zog sie das Thema Tod, seit dem Verschwinden ihres Onkels Ian, magisch an. Vielleicht war sie deshalb in der Gothic-Szene gelandet. »Hallo? Wo sind Sie?«, rief sie den spärlich beleuchteten Gang entlang. »Hören Sie, Mister. Sie sind verletzt und sollten im Bett bleiben. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass meine Mutter keinen Spaß versteht, wenn es um ihre Patienten geht.« Eigentlich bildete sie sich ein, auf alles gefasst zu sein. Doch das, was sie schließlich ausgerechnet in der Leichenhalle vorfand, übertraf all ihre schlimmsten Vorstellungen. Blutbesudelt saß der Fremde in einer Ecke des Raumes, wirkte völlig apathisch. Im Nachhinein konnte sie nicht mehr sagen, warum sie trotzdem einfach nur reagierte. Ein logisch denkender Mensch wäre sicherlich laut schreiend davon gerannt. Sie war jedoch mit drei Schritten bei dem Fremden angelangt, kontrollierte geübt den Puls und suchte ihn ohne Berührungsängste nach Verletzungen ab. »Was denken Sie sich eigentlich dabei, Mister. Sie können nicht einfach aus Ihrem Bett abhauen. Dachten Sie, das bleibt unbemerkt? Wo kommt überhaupt das ganze Blut her? Wenigstens sieht Ihre Hautfarbe jetzt besser aus«, schimpfte Cat, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Deshalb schrieb sie das »Entschuldige bitte die Umstände!«, welches in einem tiefen, rauen Timbre ausgesprochen wurde, zuerst ihrer Einbildung zu. »Eins steht fest, so kann ich Sie schlecht wieder ins Bett stecken!« »Ich werde da auch nicht mehr hingehen!«, antwortete der Fremde, als wäre dies völlig klar. Was dazu führte, dass Cat ihn zum ersten Mal, seit sie ihn am Strand gefunden hatte, richtig ansah. »Tatsächlich? Und wo wollen Sie dann hin? Ich meine, wir sind hier nicht bei ‘Ich wünsch mir was‘!«, entgegnete sie kühl und ärgerte sich im Stillen darüber, dass der Kerl sie so durcheinanderbrachte. Cat hatte mit allem gerechnet, aber sicherlich nicht mit einem: »Du hast doch ganz gewiss auch ein Bett?« Was war das denn für eine billige Anmache? »Jetzt hören Sie mal, Mister ...« »Nikoma. Man nennt mich Nikoma. Es lag mir fern, dich zu beleidigen!« Die Klangfarbe seiner Stimme brachte sämtliche Nerven in ihr zum Schwingen. Unvermittelt sah sie erneut sein pechschwarzes langes Haar im Wasser des Meeres treiben, so wie vor mehreren Stunden, als sie ihn gefunden hatte. Er versuchte, sie beruhigend anzulächeln, offenbarte dabei jedoch spitz zugefeilte Zähne. Der Kerl war wohl echt ein ziemlich schräger Vogel. »Öhm, nun Mister Nikoma, ist Nikoma Ihr Voroder ihr Nachname?« So wie mein richtiger Vorname Càtroina und mein Nachname MacCrimmon lautet. Von welcher Hinterlandinsel kommt der nur?, dachte sie stumm und bekam prompt eine Antwort, fast als hätte der Fremde ihre Gedanken gelesen. »Raven. Mein voller Name lautet Nikoma Raven. Ich komme von einer winzigen, unbekannten Insel die Duncenbar heißt. Eure Gepflogenheiten sind mir teilweise unbekannt. Bitte entschuldige mein Verhalten!« Das war doch unheimlich. Woher zum Teufel hatte sie seinen Nachnamen gewusst? Hatte er ihn ihr bereits irgendwann genannt oder hatte sie den Namen irgendwo gelesen? Weshalb war ihr das dann wieder entfallen? Den Kopf schief gelegt, die Lider mit den längsten Wimpern, die sie je bei einem Mann gesehen hatte, halb über den stechend grünen Augen geschlossen, sah er sie durchdringend an. »Und warum bist du verflucht noch mal aus deinem Bett abgehauen?« Vermutlich nicht versichert. Womöglich ist seine komplette Brieftasche irgendwo im Meer abhandengekommen. Lieber Gott, bitte lass es nicht das sein!, flehte sie in Gedanken. »Ich … ich bin wohl ziemlich in Schwierigkeiten. Meine … meine Brieftasche liegt vermutlich auf dem Grund des Meeres und ich bin nicht … nicht …« »Versichert? Merde! Ich hab’s befürchtet. Waren Sie vielleicht unterwegs nach Dunvegan Castle auf Skye, um Onkel Ian um Hilfe zu bitten? Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Mein Onkel ist vermutlich tot!« Es gelang ihr nicht, den weinerlichen Tonfall in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sanft berührten kühle, feingliedrige Finger ihre Hand. »Ich suchte Hilfe bei Ian Macs Familie. Das ist wahr. Aber meines Erachtens erfreuen er, Isandora und die Kinder sich bester Gesundheit. Erst vor kurzem sprachen wir noch miteinander!« Der Blick, mit dem der Mann sie visierte, ließ ihr einen Schauder über den Rücken laufen. Plötzlich verspürte sie Angst vor dem Fremden, wich vor ihm zurück. Weder wusste sie genau, wer er war, noch, ob er überhaupt die Wahrheit sagte. Der Mann konnte ein gemeingefährlicher Terrorist oder ein gesuchter Mörder sein. »Seine Frau ... seine ... seine Kinder? Ich glaube Ihnen kein Wort! Und wenn Sie denken, Irgendeiner würde Ihren fantastischen Spinnereien Glauben schenken, dann sind Sie verrückter, als ich angenommen hatte!«, empörte sie sich, zum Ausgang ausweichend. Er war so schnell, dass Cat keine Chance hatte. Bevor sie die rettende Tür erreichen konnte, versperrte er ihr den Fluchtweg. Wie er salopp, mit vor der Brust verschränkten Armen, an der Tür lehnte und sie ansah, wirkte er zutiefst gefährlich. Nichts erinnerte mehr an den schwachen, kranken Mann, den sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Stattdessen ließ der Anblick sie unwillkürlich an ein Raubtier denken. Einen Panther vielleicht. Denn der Fremde bewegte sich mindestens genauso geschmeidig, und auf eine verwirrende Art elegant. »Bitte, Cat. Dein Onkel hat meine Freundin geheiratet. Ian Mac liebt den Kampf mit dem Schwert. Er versteht es mit seinem Bariton wundervolle schottische Traditionals, so nennt er sie, zu singen. Er ist einer der besten Strategen, die ich je kennengelernt habe.«
Jetzt rannen die Tränen ungehindert Cat‘s Wangen hinab. Zornig wischte sie diese mit dem Handrücken weg. Ian war schon immer ihr wunder Punkt gewesen. Verflucht. Ihre Lippen zitterten unkontrolliert, als sie antwortete. »Hat er Sie auch im Schach geschlagen, Mister? Aye, er war besser darin als Pa. Ich vermisse seinen Gesang, seine Stimme ...« Seine Umarmungen, die so voller Sicherheit waren. Der Fremde überwand denn Abstand zwischen ihnen, ohne dass sie es wirklich bemerkte. Unbeholfen strich er ihr sachte über die zerzausten Haare. »Càtroina, Cat. Bitte! Ich könnte wirklich deine Hilfe brauchen. Im Gegenzug verspreche ich dir, alles über Ian Mac und Isa zu erzählen! Bitte. Ich kann dir die Wahrheit meiner Worte beweisen. Wenn du mich lässt.« Konnte sie diesem Mann wirklich trauen? Was, wenn er wirklich die Wahrheit sagte? Ihr Onkel würde ihr den Hals umdrehen, wenn sie seinen Freund mittellos auf der Straße stehen ließ.
Читать дальше