»Lächerlich, Pa?«, konterte sie mit seinen eigenen Worten, zutiefst verletzt. Würde sie es je schaffen, den hohen Erwartungen ihres Vaters gerecht zu werden?
»Hast du ihn dir überhaupt richtig angesehen, Pa? Nur, weil der Fremde vom Aussehen nicht in dein spießiges Weltbild passt, ist er doch nicht gleich ein Junkie! Und überhaupt, was zum Henker haben meine Freunde damit zu tun?« Oh nein, Cat. Kannst du nicht einfach, ein einziges Mal, dein vorlautes Mundwerk halten. Du machst es nur noch schlimmer!, rügte sie sich. »Hüte deine lose Zunge, Càtroina! Sieh ihn dir doch mal genauer an, Daingead! Dein Onkel Ian würde sich doch nicht mit so einem abgeben. Ausgerechnet du müsstest doch wissen, was für zwielichtige Gestalten es heutzutage gibt. Erzähle ich dir nicht genug von meinem Job?« Das war so typisch für ihren Vater! Ständig musste er jeden ihrer Freunde unter die Lupe nehmen. Überall mischte er sich ein. Die Tochter eines Polizisten zu sein war fürchterlich. Tatsächlich war ihr Vater erst ziemlich spät Polizeibeamter geworden. Hätte er einen anderen Beruf gewählt, wäre sein bester Freund nicht spurlos verschwunden?
Jason tat und sagte natürlich nichts, um ihr zur Hilfe zu kommen. Im Gegenteil zu ihr wusste er nämlich, wann es besser war, einfach den Mund zu halten. Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete sie genervt das Tun ihres Vaters, fragte sich insgeheim, ob er genauso jobbesessen wäre, wenn er in Edinburgh oder Glasgow arbeiten würde. Vermutlich hätten sie dort so viel zu tun, dass er keine Zeit mehr für die Nichtigkeiten seiner Tochter hätte. Colin war neben ihr in die Knie gegangen, prüfte nun selbst den Puls des noch immer völlig regungslosen Mannes. Einen Moment lang war sie wieder da gewesen, die Trauer in der Stimme ihres Vaters. Ian war wie ein Bruder für ihn gewesen. Noch immer hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, selbst nach all den Jahren nicht, in denen aus dem kleinen Mädchen eine junge, widerspenstige Frau von fünfundzwanzig Jahren geworden war. Hatte er deshalb nie eine nennenswerte Karriere angestrebt? Hoffte er nach all der Zeit immer noch darauf, etwas über seinen besten Freund in Erfahrung zu bringen? Ihr Vater hatte es ihrer Mutter überlassen, Karriere zu machen. Würde sie je einen Mann finden, dem sie genauso viel bedeutete, wie ihre Eltern sich gegenseitig bedeuteten?
Ihr Bruder lehnte noch immer teilnahmslos am Jeep ihres Vaters. Lediglich der Ausdruck seines Gesichts, vor allem seiner Augen, spiegelte Missfallen, gepaart mit einem Hauch von Verachtung, wieder. Das war so typisch für ihn. Weiß der Himmel warum, aber sie hatte das Bedürfnis, den Fremden zu verteidigen. »Pa, nur weil er tätowiert ist und zugegeben etwas seltsam aussieht, heißt es doch noch lange nicht, dass er keine Hilfe braucht!«, versuchte sie sich bei Colin einzuschmeicheln. In einer zärtlichen Geste legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Dafür gibt es Krankenwagen, Càtroina. Warum zum Teufel hast du keinen angefordert?« »Jetzt hör doch mal auf, den staatstreuen Bullen raushängen zu lassen, Pa!« »Das müsste ich vermutlich nicht, wenn nicht meine eigene Tochter sich mit Dealern einlassen und verprügeln lassen würde!«
»Ich bin nicht mehr mit Marty zusammen. Und das mit den blöden Haschkeksen war ein Versehen. Ich habe dir bereits zigmal erklärt, wie es dazu gekommen ist …«
»Warum hast du keinen Krankenwagen gerufen, Càtroina?« Langsam wurde sie richtig sauer. Sie war noch nie die brave Tochter gewesen, die ihr Vater sich gewünscht hatte. Tätowiert, gepierct und rebellisch, wie sie war. Tief enttäuscht verzog sie die Lippen zu einem süffisanten Schmollmund. »Du willst wissen warum? Okay. Weil er keine offensichtliche Wunden hat. Ich hatte Angst, dass sie ihn nicht mitnehmen. Und wenn du es schon unbedingt genau wissen willst, Pa: Ja. Ja, verdammt, er ist mein neuer Stecher! Ich werde dir nicht sagen was wir hier getrieben haben oder nicht. Weil es dich nämlich, verdammt noch mal, nichts angeht. Können wir ihn jetzt endlich ins Raigmore nach Broadford fahren?«, entgegnete sie, und fühlte sich innerlich schrecklich verletzlich und erbärmlich.
Colins Augen hielten ihrem Blick stand. Verbissen zwang sie sich, nicht auszuweichen und nicht klein beizugeben. Verflucht, sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Kein kleines Mädchen mehr. Irgendwann musste er verstehen, dass er sie nicht wie ein Baby behandeln konnte. Letztendlich ließ er ihr ihren Willen, half sogar den regungslosen schweren Körper des Fremden auf die Rückbank des Jeeps zu verfrachten. Der Mann wog nicht viel, aber da er über keinerlei Körperspannung verfügte, war es nicht einfach, ihn ins Auto zu befördern. Er schien tatsächlich auf beneidenswerte Art nur aus Muskelmasse zu bestehen. Trotzig missachtete sie die Blicke ihres Vaters, ebenso wie die ihres Bruders. Vorsichtig zwängte sie sich zu dem Fremden auf den Rücksitz, wo sie erneut behutsam seinen Kopf in ihren Schoß bettete. Beruhigend murmelnd, strich sie über seine Haare und Haut, während ihre Finger beständig seinen Puls kontrollierten. Ihr Blick blieb an einer altertümlichen Brosche hängen, welche an einem Stofffetzen seines Hemdes hing und an eine Wolfstatze erinnerte.»Ich bin gespannt, wie du das deiner Mutter erklären willst, Càtroina«, knurrte Colin hinterm Steuer mit einer Stimme, die aus seiner Gemütslage keinen Hehl machte. Wie so ziemlich immer, hatte ihr Vater natürlich Recht. Sie würde ganz gewaltigen Ärger bekommen, was so sicher war, wie das Amen in der Kirche. Aber wenn sie etwas gewohnt war, dann den Ärger, den sie wie magisch anzog. Trotz der späten Uhrzeit und des geringen Verkehrs, schien der Weg ins Krankenhaus sich ins Unermessliche zu ziehen. Mehr als einmal bildete sie sich ein, keine Atemgeräusche mehr zu hören. Inzwischen bereute sie bitterlich, nicht einfach einen Krankenwagen gerufen zu haben. Jetzt war es dafür allerdings zu spät.
Kaltes Licht brannte sich durch seine geschlossenen Augenlider. In seinem Körper brodelte der Schmerz, wie siedend heißes Wasser, das ihm bei lebendigem Leib, Haut und Fleisch von den Knochen brannte. War das Sterben? Fühlte es sich so an? Wo blieb der kalte, gefühlslose Hauch des Todes? Dem Tod Geweihten spüren doch angeblich nichts. Von wegen! Was für eine Farce trieb Gevatter Tod mit ihm? Er öffnete den Mund, um zu schreien, um zu protestieren, vernahm aber lediglich ein grausames Gurgeln. Sein Kopf war voller Geräusche. Es gelang ihm weder, sie einzuordnen, noch sich gegen diese zu wappnen. All seine Sinne waren in Aufruhr. Vergeblich mühte er sich ab, um sich zu bewegen. Auch dies misslang. Totaler Kontrollverlust. Nikoma, waberte ein Name durch seine heillos verwirrten Gedanken. Nein, nicht irgendein Name. Nikoma, dies war sein Name. So hieß er. Von einem Augenblick zum anderen war alles wieder da. Er war Nikoma, erstgeborener Sohn von Solena, der Herrscherin von Duncenbar. Er gehörte dem alten Geschlecht der Formwandler an. Gefallen. Himmel, er war durch die Nebel der Zeit gefallen …
»Oh Ian, oh Isa«, holperten die Namen seiner Freunde ungelenk über seine ausgedörrten Lippen und fanden Gehör. Schatten bewegten sich hinter seinen geschlossenen Lidern. Der Geruch nach Menschen sowie das Geräusch ihres Blutes, das warm und verlockend durch ihre Venen pulsierte, brachen so plötzlich über ihn herein, dass es ihm größte Mühe bereitete, sich zusammen zu reißen. Hunger und die Notwendigkeit von Blut, um seinen geschwächten Körper zu heilen, brachten ihn fast um den Verstand. Jemand berührte seine Haut, strich sacht wie ein Windhauch darüber. Beugte sich über ihn. Zu nah, viel zu nah.
»Ich weiß nicht, Mum. Er wirkt viel zu unruhig. Völlig verkrampft. Sieh nur wie sich seine Finger in die Matratze krallen. Warum musstet ihr ihn festschnallen?« »Schatz, ich hatte es dir erklärt. Wir wollen nicht, dass dein Freund runterfällt oder sich selbst weh tut. Das Drogenscreening läuft noch, und solange wir nicht wissen ob und was er genommen hat …« »Mum. Zum hundertsten Mal: Er hat nichts genommen«, tönte eine Stimme an seinem Ohr, die ihm seltsam vertraut vorkam. Konzentriert versuchte er, so wenig wie möglich zu atmen. Dummerweise bohrte sich gleichzeitig ein fürchterlicher Ton durch sein Gehirn, durchbrach seine Gedankenwelt. »Verdammt. Er hört auf zu atmen«, vernahm er eine entsetzte Stimme. »Aus dem Weg, Càtroina! Ich fürchte wir müssen intubieren.« Noch während Nikoma begriff, dass er normal atmen musste, um was auch immer „Intubieren“ war aufzuhalten, spürte er bereits einen fiesen Stich in seiner Armbeuge. Der scheußliche Ton verstummte. Verzweifelt kämpfte er darum, seine Augen zu öffnen und gleichzeitig den Drang zuzubeißen niederzuringen.
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