Kapitel 5
Eines Tages ging ganz unerwartet die Tür im Konferenzsaal auf und da war er wieder: Heiko! Das erste was passierte: Er schrie. „Passt auf! Hinter euch!“, versuchte er uns zu warnen. Wir drehten uns um und erblickten gelangweilt, was wir schon so oft gesehen hatten, um genau zu sein täglich: Ein Häufchen Elend - Johannes.
„Ach, vor dem brauchst du keine Angst zu haben“, gab Knut Entwarnung. „Der tut dir nichts.“
„Wo kommt das Ding her?“, interessierte es Heiko.
„Das ist dieses besagte Monster aus dem Wald, welches Leander aus der Falle befreit hat, du weißt schon...“, erklärte ihm Knut.
Heiko nickte. „Und was macht es hier?“
Knut wollte gerade antworten, da meldete sich Johannes zu Wort: „Danke, Knut, ich kann für mich selbst sprechen.“
„Es kann sprechen?!“, wunderte sich Heiko. „Langsam wird mir das hier unheimlich!“
„Natürlich kann ich sprechen. Ich bin auch ein Mensch, so wie du“, erklärte Johannes etwas beleidigt. Dann widmete er sich Heikos Frage: „Ich bin hier weil man mich im Wald entdeckt und gefangen genommen hat. Darauf wollte man mich töten, doch Leander ließ das nicht zu und jetzt versteckt er mich hier.“
„Typisch für Leander...“, meinte Heiko.
„Ich kann ihn doch nicht einfach von den anderen ermorden lassen!“, verteidigte ich mich. „Sag mal, Heiko, warum bist du eigentlich hier? Hat’s mit Elise nicht geklappt?“
Da hatte ich wohl eine wunde Stelle getroffen, denn Heiko senkte das Haupt, schloss dabei die Augen und verzog sein Gesicht, so als hätte er Schmerzen. Sogleich blickte er wieder auf. „Ja, es ist wahr, ich hatte Krach mit ihr. Sie war nicht zufrieden damit, dass ich weder lesen noch schreiben kann und wollte, dass ich es lerne. Ich versuchte es ja, doch sie war mit meiner Leistung ebenfalls nicht zufrieden und behauptete sogar, ich würde mich nicht ernsthaft darum bemühen! Aber ich kann das einfach nicht! ...Und dann habe ich an eure Worte gedacht: Heiko, du kannst zurückkommen, wann immer du willst. Bei uns bist du jederzeit willkommen. Also hab ich mich in der Nacht nach unserem Streit, der nicht mit einer Versöhnung endete, nachdem Elise eingeschlafen war, ohne ein Wort aus dem Staub gemacht. ...Ob sie mich wohl vermisst?...“ Wir alle bedauerten Heiko deswegen, doch eigentlich hätte man ihn genau so gut beglückwünschen können, denn ich wusste ja, wie Elise sein konnte... Auf ewiges Glück zwischen den beiden hätte ich mich von Anfang an nicht verlassen. Ein Wunder, dass er es überhaupt so lange mit ihr ausgehalten hatte. Nun war Heiko also wieder einer von uns.
Kapitel 6
Demnächst stand Mayas und Sixtus’ Hochzeit an, auf die sich schon jeder sehr freute. Nur Johannes konnte unmöglich mitkommen, da er das Versteck nicht verlassen durfte. Für die meisten war genau das das Schlimmste. Zwar ließ er einem in Ruhe, aber er war eben immer da und man hatte nie die Möglichkeit, hier drinnen wirklich mal allein sein zu können. Ebenfalls wollte man ihn zwar während der bevorstehenden Hochzeit oder an Markttagen nicht unbeobachtet hier lassen, aber es wollte auch keiner, bis auf Hanna vielleicht, allein mit ihm in einem Raum sein. Einen Monat war er jetzt schon bei uns, aber es hatte sich nichts geändert. Man konnte ihn hier einfach nicht richtig akzeptieren.
Genau aus diesem Grund rief eines Montagmorgens, kurz nach dem Frühstück, Xenia mit meiner Erlaubnis eine Besprechung im Konferenzsaal ein. Vorerst wusste jedoch noch niemand, um was es darin gehen würde, nicht einmal ich selbst. Johannes wurde darum gebeten, solange im Schlafsaal zu warten, da dies nur Diebe etwas anginge. Dann begann Xenia zu sprechen: „Diebe, hört mich an! Ist euch denn nicht auch aufgefallen, dass sich hier etwas verändert hat?“ Sie fand Zustimmung. „Die Diebesgilde ist einfach nicht mehr das, was sie einmal war“, fuhr sie fort. Wieder stimmte man ihr zu. „Und woran, glaubt ihr, liegt das?“, stellte sie die entscheidende Frage. Für einen Moment schwieg sie und ein Raunen machte sich unter uns breit, in dem man immer wieder den Namen „ Johannes “ vernehmen konnte. „Ihr habt es erfasst! Johannes ist der Auslöser! Persönlich habe ich nichts gegen ihn, doch er passt hier nicht her. Er muss von hier verschwinden! Schließlich sind wir eine Diebesgilde und kein Zufluchtsort für... - eigenartige Kreaturen!“
„Moment mal“, wandte ich ein, noch bevor man ihr erneut zustimmen konnte. „Ich weiß ja, was ihr meint und mir geht es dabei nicht anders. Ja, kann sein, dass er lästig ist. Aber er tut doch niemandem was! Außerdem, wo soll er denn sonst hin? Die Welt da draußen ist zu gefährlich für ihn, weil er dort nicht als Mensch angesehen wird. Er hat dort nicht die geringsten Rechte – nicht einmal das Recht zu leben und...“
Xenia unterbrach mich: „Das ist aber nicht unser Problem!“ – Zustimmung.
„Aber dafür kann er doch nichts“, erinnerte ich sie, worauf sie zurück argumentierte: „Wir doch auch nicht!“ – Zustimmung.
„Das können wir ihm nicht antun!“, fand ich. „Wir müssen eine andere Lösung finden! – Eine Lösung mit der jeder von uns zufrieden ist.“
„Und die wäre?“, mischte sich nun auch Janina ein, die ebenfalls Zustimmung erhielt.
Jetzt wurde es echt laut! Ich wurde mit Problemfragen überhäuft und wusste nicht mehr, auf welche ich zuerst antworten sollte, da begann Alexa plötzlich zu weinen. Raven und mir wurde es zu viel – und meinem Vater anscheinend auch. „Jetzt lasst ihn doch mal in Ruhe!“, verlangte dieser von ihnen, worauf alles still wurde, bis auf Alexa. „Ihr werdet doch jetzt wohl keinen Aufstand machen, nach all den Jahren, in denen wir immer zusammengehalten haben. Vergesst nicht, wir sind alle eins: Diebe. Wir verraten uns nicht gegenseitig. Zusammen sind wir stark – allein sind wir Nichts!“ Die Rede meines Vater wirkte. Er hatte schon immer das Ansehen aller. Sogar der verstorbene Olaf hatte Respekt vor ihm gehabt - und das will was heißen!
„Unser Herr hat Recht. Das geht so weit, dass wir uns gegenseitig zerfleischen! Da seht ihr es, Johannes bringt nur Unfrieden mit sich“, fing Xenia nach einer Schweigeminute dann erneut an.
„Xenia, es reicht“, brummte der Herr der Diebe.
„Gut, ich lasse mir etwas einfallen!“, unterbrach ich das erneute Schweigen. „Ich will eine, für uns alle zufriedenstellende, Lösung finden.“ Nach diesem Satz stand ich auf und verließ entschlossen den Konferenzsaal.
Raven folgte mir mit Alexa, die sich inzwischen wieder einigermaßen beruhigt hatte. Erst schwiegen wir, doch kaum hatten wir das Lagerhaus verlassen, begann Raven auf mich einzureden: „Leander, was hast du vor?“ Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte, also gab ich keine Antwort. „...Leander?...“, fragte sie nach einer Weile vorsichtig nach, doch ich antwortete nicht. „Leander, jetzt sag doch was!... Bitte!“, forderte sie.
„Ich weiß es doch selbst nicht!“, schrie ich sie an, worauf sie zurückschreckte. Das war gerade nicht geplant gewesen. Von mir selbst überrascht, entschuldigte ich mich bei ihr: „Tut mir leid. - Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe.“
Sie nahm die Entschuldigung an. „Schon gut. Ich weiß, du bist gestresst.“
„Gestresst ist gar kein Ausdruck für meinen momentanen Zustand. Ich brauche jetzt erst mal frische Luft“, meinte ich darauf nur.
„Da habe ich genau das Richtige für dich! Folge mir“, rief Raven auf eine verführerisch-geheimnisvolle Art, nahm mich an der Hand und zusammen gingen wir durch die Wiese, die wie jeden Sommer mit vielen, schönen, bunten Wildblumen bewachsen war, am Flussufer entlang, bis hin zu unserer Stelle. Dort angekommen blieben wir stehen. Ich blickte in das ruhig fließende, klare Wasser, in dem wir uns spiegelten. Raven sah nicht hinein, sondern stand mit dem Gesicht zu mir. Ich sah im Wasser, wie sie sich leicht vorbeugte, sodass sich mir ihr Gesicht von der Seite näherte. Dann säuselte sie mir mit ihrer warmen, beruhigenden Stimme ins Ohr: „So, und jetzt schließ die Augen, entspann dich und vergiss all deine Sorgen...“
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