„Ich danke Euch, Prinz Feodor!“, sprach ich mit einer Verneigung. Dann schrieb er noch einmal etwas und gab mir den Zettel. Darauf stand, dass Johannes im Wald nicht mehr sicher wäre und dass ich ihn darum besser gut verstecken sollte. Also beschloss ich, ihn vorerst in die Diebesgilde zu bringen. Aber erst einmal benötigte er dringend ein Bad, da faule Eier nicht gerade angenehm rochen...
„Knut bringt dich von hier weg“, erklärte ich Johannes.
Dann ordnete ich Knut an: „Besorge am Marktplatz Kleidung und ein Stück Kernseife für ihn - hier hast du das Geld dafür - und begleite ihn dann zu einer einsamen Stelle am Fluss, damit er sich waschen kann. - Lass ihn aber auf gar keinen Fall allein! Danach bringst du ihn mit verbundenen Augen ins Geheimversteck. Ich muss jetzt zu Raven!“
Kapitel 2
Insgesamt war ich eine gute halbe Stunde unterwegs gewesen, bis ich erneut im Konferenzsaal ankam. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, ertönte auch schon ein ohrenbetäubender Schrei von Raven. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte man meinen können, jemand ramme ihr gerade einen Dolch in den Bauch! Während Maya, Melissa und meine Eltern Raven im Schlafsaal bei der Geburt behilflich waren, hatten sich die restlichen Diebe, die außerdem zu Hause waren, im Konferenzsaal versammelt, darunter auch Peter und Rainer.
„Die schreit bestimmt noch lauter“, meinte Rainer zu Peter.
„Nie im Leben“, hielt Peter dagegen.
„Um was wetten wir?“, wollte Rainer wissen.
„Das Übliche: Der Gewinner putzt dem Verlierer all seine Schuhe“, rief Peter übermütig.
„Einverstanden“, willigte Rainer ein. Die beiden hatten in letzter Zeit nichts anderes mehr als Wetten im Sinn. Normalerweise beobachtete ich sie immer sehr gern dabei, doch diesmal war mir das völlig egal.
Ich stürmte in den Schlafsaal zu Raven, worauf mein Vater mich bat: „Leander, könntest du bitte für mich übernehmen? Raven bricht mir noch die Hand...! Das Mädchen hat Kraft, sag ich dir...“ Also nahm ich meinen rechtmäßigen Platz ein.
„Ist Johannes frei?“, quetschte Raven hervor.
„Ja, Knut bringt ihn später hierher. Aber jetzt konzentriere dich lieber wieder aufs Kinderkriegen. Das ist im Moment wichtiger“, schlug ich vor, worauf Raven schlagartig presste und auch gleich losschrie. Meine Hand schmerzte, doch ich, als Rechtshänder, hatte ihr vorsichtshalber schon mal die linke gegeben.
„Komm, du schaffst das!“, ermutigte ich sie.
„Ich seh den Kopf! Ich seh den Kopf!“, rief Maya ganz aufgeregt.
„Komm schon, Raven, noch ein kleines Stückchen, dann hast du’s geschafft!“, redete ich ihr zu. „Und wenn dabei meine Hand draufgeht, ich möchte endlich unser Baby in den Armen halten!“ Anscheinend hatte ich Raven überzeugt, denn sie holte ganz tief Luft und presste wieder und wieder, bis das Baby endlich da war. Insgesamt hatte die Geburt eine gute Stunde gedauert.
„Gratuliere, es ist ein Mädchen!“, verkündete Maya, wickelte es in ein Handtuch und überreichte es mir. Ich trug es zu Raven.
„Sie ist wunderschön“, bewunderte Raven unser Baby.
„Ja, das ist sie. Eine wahre Schönheit. Die Knaben werden ihr mal haufenweise nachlaufen! ...Sie sieht genau so aus wie du“, stellte ich fest. „Sie hat deine tiefblauen Augen und deine rosigen Lippen.“
„Und deine Gabe“, ergänzte Raven.
„Welche Gabe denn?“, fragte ich verwundert.
„Die Gabe, mir das Herz zu stehlen“, erklärte sie mir.
„Ach, die Gabe hast du aber auch gegenüber mir! Sie könnte es genau so gut von dir geerbt haben. Wer sagt eigentlich, dass die Kleine überhaupt von mir ist?“, begann ich zu spaßen. „So niedlich bin ich doch gar nicht!“
„Doch, bist du“, behauptete Raven. „Sie hat bestimmt auch was von dir.“
Nun mischte sich auch noch mein Vater ein: „Also ich finde, sie hat deine Hände, Leander. – Perfekte Hände zum Stehlen!“ Ich musste grinsen. Natürlich wussten wir, dass er das nicht ernst gemeint hatte.
„Typisch für dich“, meinte meine Mutter zu ihm. „Denkt immer an den Profit. Lass die drei doch mal allein.“ Maya und Melissa waren bereits gegangen. Nun verließen auch meine Eltern den Raum.
Es war unglaublich schön, das kleine Mädchen einfach nur in den Armen zu halten und zu bewundern. Ich versuchte sogar, so wenig wie nur möglich zu blinzeln, damit ich ja keinen einzigen Moment verpasste, da es mir jedesmal, wenn ich die Augen schloss, wie eine Ewigkeit vorkam, sie nicht zu sehen. Stunden hätte ich so verbringen können, ohne von ihrem Anblick gelangweilt zu sein. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich allein von Luft und Liebe leben könnte und nicht mehr als Raven und unser Kind dazu bräuchte...
Kapitel 3
Nachdem ich es nach Stunden endlich wieder geschafft hatte, den Schlafsaal, mit Raven und unserem Kind, zu verlassen, war Johannes längst hier und wartete im Konferenzsaal darauf, mit mir reden zu können. Im Moment hatten wir den Raum für uns allein. „Ich wollte meine Vermutung damals nicht äußern, als du mit Raven zu mir kamst, weißt du noch?“, rief er meine Erinnerung zurück, worauf ich nickte. „Aber vielleicht hätte ich das besser tun sollen“, machte er sich Vorwürfe. „Immerhin hatte sie ähnliche Symptome wie die Katze, also war es durchaus möglich, dass sie schwanger wäre. Ich habe bereits davon gehört, dass sie ihr Kind gerade eben bekommen hat. Gratuliere. Und es tut mir wirklich leid, dass du wegen mir beinahe die Geburt versäumt hättest.“
„Ist schon in Ordnung.“, beruhigte ich ihn. „Du kannst ja nichts dafür. Schließlich musste dir doch jemand helfen. Und...“
„...Und ich konnte mich dafür noch gar nicht bei dir bedanken“, unterbrach er mich. „Danke, Leander, hab tausend Dank! Du hast mir das Leben gerettet. Wie kann ich dir nur je dafür danken?“
„Ist doch selbstverständlich, einem Freund in Not zu helfen“, gab ich ihm zur Antwort.
„Nein, ist es nicht – zumindest nicht bei den Menschen, die ich kennengelernt habe. Das hätte ich wirklich von niemandem erwartet. Und mit dir hätte ich auch nicht gerechnet, vor allem weil wir uns so lange nicht gesehen haben. Ich war mir eigentlich schon sicher, du hättest mich längst vergessen“ – Wie könnte man Johannes vergessen, selbst wenn man es wollte?! – „und ich würde heute sterben - und hatte es auch schon akzeptiert. Es kommt mir glatt wie ein Wunder vor, dass ich jetzt hier sitze und noch am Leben bin. Ich bin beeindruckt von deinem Mut, dich für mich gegen die Menge zu stellen. - Das war doch auch gefährlich für dich! Warum kann es nicht mehr Menschen wie dich geben? Wieso sind die anderen nur so grausam?“ Ich konnte erkennen, wie ihm Tränen in sein noch funktionierendes Auge stiegen.
„Diese Frage kann dir wohl nur Gott beantworten“, meinte ich.
„Mehr als sieben Jahre sind vergangen und die Menschen dieser Welt haben sich kein bisschen geändert. Tut mir leid, dass ich so sentimental werde“, entschuldigte er sich, als er eine Träne verlor.
„Das ist in Ordnung - wirklich!“, wandte ich schnell ein.
„Aber du musst dir mal vorstellen, über sieben Jahre im Wald gelebt zu haben, wo du von den Menschen fast vollkommen abgeschnitten bist. Da hat man so gut wie keine Gefühle, weil beinahe jeder Tag gleich verläuft. - Und jetzt so etwas. Noch nie hat sich jemand für mich auch nur annähernd eingesetzt. Dieses Gefühl, das ich jetzt verspüre, ist mir vollkommen neu.“ Ich nickte verständnisvoll.
„Du fragst dich bestimmt, wo du hier bist“, fiel mir nach einer Weile des Schweigens auf.
„Ja, dieser Junge, Knut, er verband mir auf deinen Befehl hin doch die Augen, bevor er mich hierher führte. Jedoch verstand ich nicht, wozu das gut sein sollte“, schilderte Johannes.
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