HMS Anne. Sehr amüsiert. Angeblich hab ich es gewollt. So. Schwimmen lernen. Unbedingt.
Die Milch und die Freibäder.
Ich schwimme nur noch im Meer.
Phillip hat das gefilmt. Da war er acht. Mit der Super-8 (!), die er zur Kommunion bekommen hat. Mit einem wackligen Schwenk auf Mama im Liegestuhl. Im Bikini. Mama im Bikini! Kaum zu glauben. Alles in so beißenden Farben. Wie koloriert. Wie aus einer anderen Welt. Märchenwelt.
Wahrscheinlich hätte Phillip auch gefilmt, wenn ich ertrunken wäre.
Dabei sein, ohne Anteil nehmen zu müssen.
Es gibt auch einen Film von ihm. Oben auf der Landskron. Da trägt er eine Schaffner-Uniform mit roter Mütze, in der Hand hält er eine Schaffnerkelle. Phillip gibt das Abfahrtsignal – mit Trillerpfeife und rosigen Wangen, sehr ernst und selbstbewusst. Damals war schon alles angelegt. Ich im Dirndl und mit Pupi-Lotta. Nach Pipilotta. Mein Gott, hab ich die geliebt.
Noch vor Helga.
Ich erinnere mich an einen ausgestopften Bären auf der Landskron.
Gab’s da Bären?
Es gibt Dutzende Filme von Phillip und mir. Vati hat alles gefilmt.
Damals habe ich ihn Vati genannt.
Geburtstage. Weihnachten. Gedichte vor dem Weihnachtsbaum. Leuchtende Kerzen, leuchtende Augen.
Alles ohne Ton. Was es noch intensiver macht. Später dann hat er alles auf Video überspielt und mit James Last
versoßt. Christmas-Dancing!
Und mein erster Schultag – mit „Muss i denn zum Städtele hinaus.“
Mit Ranzen und mit Zuckertüte. Und Phillip an meiner Seite. Nicht an meiner Hand. Dafür fühlte er sich schon zu erwachsen. Der große Bruder, der den Weg schon kannte, die Schule, die Lehrerin. Er trägt da einen Anzug mit kurzer Hose und eine Krawatte mit Gummizug.
Ich habe noch Ahnung davon, wie ich mich gefühlt habe, damals, als ich dem Ernst des Lebens zugeführt worden bin. Wie ich mich gefühlt haben muss. Weil sich dieses Gefühl immer wieder eingestellt hat. Bei jeder neuen Einführung in eine andere neue Welt. Immer noch. Aufmerksam und ängstlich.
Irgendwann müsste man diese ganzen Kulissen noch einmal abfahren. Spuren suchen. Erinnerungen abgleichen. Und danach die Filme verbrennen.
Oder sein Gehirn.
Karawankentunnel.
Klingt besoffen.
7862 Meter durchs Gestein. Auf der anderen Seite ein anderes Land.
Na dann: Prost!
Wie heißt das auf Slowenisch?
Was weiß ich über Slowenien?
Nichts. Ljubljana soll schön sein. Laibach.
Ich war noch nie so weit im Osten.
Ich war lange nicht mehr fort.
4 Grad. Schneefall!
Am 28. April.
Ljubljana.
Warten auf den Anschlussbus.
Der sogenannte Busbahnhof ist eine zugige Betonbaracke auf dem Mittelstreifen gegenüber. Grüne Sitzschalen aus Plastik. Leider schon vergeben.
Flixbus-Abfahrt Richtung Venedig/Triest von Gate 29.
Klingt nach Terminal, ist aber nur eine überdachte Haltestelle mit perforierten Metallsitzen.
Arschkalt!
Ich habe mich in die Schalterhalle des Bahnhofs geflüchtet. Der Eisenbahn-Bahnhof. Draußen regnet es noch immer. Hier drinnen ist es warm.
Ich sitze auf meinem Koffer und schreibe. Ein schöner, alter Bahnhof, gebaut 1848, auf der Strecke von Wien nach Triest. Das war damals alles Österreich. Habsburger Reich.
Es gibt ein paar zugige Cafés in der Nähe und eine Café-Bar hier im alten Bahnhof. Aber ich habe beschlossen, meinen ersten Kaffee in Triest zu trinken.
Caffè Italiano.
Halte ich das durch?
In anderthalb Stunden geht es weiter. Dann noch mal anderthalb bis nach Triest.
Großes Unterhaltungsprogramm draußen vor der Scheibe!
Die Trainingsjacken machen Leibesübungen – im Regen!
Echte Fanatiker. Sportler sozusagen. Sie haben irgendeinen Reklameschriftzug auf den Jacken, hinten.
Security?
Mein Gott, ich glaub‘s nicht, der eine hat ne Trillerpfeife!
Wie Phillip. Er gibt Kommandos. Auch wie Phillip.
Was für ein Bild: Sie dehnen und sie strecken sich!
Schöner Titel für‘n Stummfilm.
Komödie oder Tragödie?
Warten die etwa auf den gleichen Bus?
Ich könnte einfach weiterfahren bis Venedig. Auf eigene Faust und eigene Rechnung. Würde ihn das ärgern, oder freuen?
Noch weiter weg.
Bringt mich das weiter?
Wieso Triest und nicht Venedig?
War da wirklich ausgebucht?
Soll ich das glauben?
Glauben hilft nicht. Aber die Zeit vergeht. Noch eine Viertelstunde.
Bus ist pünktlich!
(Hallo Deutsche Bahn!)
Ausweis gezeigt, Fahrkarte gescannt, Koffer verstaut. Sitzplatz 7c.
Neben mir sitzt eine junge Asiatin (eine asiatisch aussehende junge Frau) und wundert sich vermutlich über den Anachronismus des händigen Aufschreibens (von mehr oder weniger wertvollen Gedankensplittern), während sie auf ihrem Smartphone rumtippst. Eilige Finger mit schwarz lackierte Fingernägeln. Ist mir schleierhaft, wie man mit diesen Krallen tippen kann.
Eines Tages, eines nicht mehr fernen Tages, werden wir alle solche Handfortsätze haben – evolutionär bedingt. Wenn es dann noch Hände braucht.
Alexa, schreib auf: Es geht nach Italien!
Jetzt guckt sie ein Video mit jungen, durchgestylten, Gute-Laune-Dummies. Ich gucke mit. Es ist eigentümlich. Ich höre nichts. Aber ich kenne den Song, ohne ihn zu kennen.
La-la-la.
Ich spüre den Beat. Ich kenne auch all diese Mensch-Maschinen.
Alles unbekannte Bekannte von überall her. Strahlende Monaden. Makellose Körper.
Sind die echt?
Bin ich neidisch?
Makellose Kopfhörer. Nichts dringt nach außen. Wir sind mit uns, vollkommen verkapselt und verschlossen.
Sesam: bloß nicht öffnen!
Ich hatte damals einen Walkman. Mit Kassetten. Damals: Wie das klingt!
Wie Steinzeit. Damals klang es wild. Nach Ausbruch. Aufbruch. Freiheit. Emanzipation aus Ohrstöpseln. Als sänge Gianna nur für mich.
Bello, bello e impossibile!
Gianna war meine beste Freundin.
Was hört eigentlich Elisa? Wenn sie nicht Klavierspielen muss.
War das deine Idee? Spielt sie für dich, weil du nicht durchgehalten hast?
Was hast du ihr erzählt: Man müsste Klavierspielen können?
Gang rein, Anfahrt zur zweiten Etappe.
Über den Gang sitzt einer von den Trainingsjacken. Er trägt Wollmütze und Schlafbrille zu Ohrstöpseln.
Sehr apart.
Hör ich da Vivaldi?
Italia!
Mein Herz hupft. Aber der Himmel weint.
Aus Anteilnahme?
Grazie.
Wie lange war ich nicht mehr in Italien?
Die Tagung in Florenz. Wann war das – 13?
Milde 13. Mit Umberto in den Uffizien.
Da hat Mama noch allein gelebt.
Der letzte Sommer.
ⴕ
Triest!
Ein verwittertes Straßenschild im Regen.
Es geht in Serpentinen abwärts, entlang schroffer Felswände.
Die ersten Dächer und Häuser. Vertrautes Rot und Blass-Pastell im wuchernden Grün der Hügel. Sollen sieben sein. Wie Rom.
Wo ist das Meer?
Ich kann das Meer nicht sehn.
Wasser heute nur von oben.
Ein Raumschiff!
Hingeklotzt ins Karstgrün. Graubeton. Gigantisch. Grausam.
Menschen können das unmöglich erschaffen haben. Vielleicht Architekten.
Steht das im Reiseführer?
Unter den Highlights steht es nicht.
Ein paar Kehren weiter noch ein King-Kong-Bau. Erinnert an die E.U.R in Rom. Mussolini lässt grüßen.
Könnte die Universität sein.
Man muss die Architektur nur lange genug stehen lassen, dann wird sie politisch wieder opportun.
Einfahrt in die Stadt im Regenschleier. Feuchter Asphalt.
Sind das Kräne, oder Masten?
Müssen bald am Ziel sein.
Allora: Trieste Centrale!
Die ersten prächtigen Häuser um den Bahnhofsplatz versammelt. Wir fahren auf das Tor zum alten Hafen zu. Wir biegen vorher ab. Wir halten auf ein schwarzes Loch zu. Schranke hoch und alles Tageslicht verlöscht. Wir enden in einer düsteren Höhle. Der Bus seufzt.
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