„Auch wenn du es mir nicht glaubst, lieber Roald“, sagte Swinston, „beneide ich dich noch heute. Du warst immer der Klügere von uns beiden.“
„Mag sein“, sagte Baxter unbescheiden. „Aber aus irgendeinem Grund arbeitest du in einer der größten Unternehmen des Imperiums und ich repariere Spielzeug.“
„Ach, es ist zu oft nicht nur eine Frage des Talents, sondern auch der Chancen, die man im richtigen Moment findet. Ich habe die Chancen gesehen, auch ohne der bessere Ingenieur zu sein. Jetzt aber, wo ich so weit bin, will ich auch jemandem helfen, in den ich volles Vertrauen setze.“
„Tatsächlich?“ Baxter ließ ein skeptisches Lächeln über seine Teetasse schweben.
„Du bist in der letzten Zeit sehr misanthropisch geworden. Die Handarbeit tut dir wohl nicht gut. Man hat dich sogar an der Vauxhall Bridge Schrott kaufen sehen. Bedauerlich, mein Freund. Du hast ein viel besseres Leben verdient.“
Baxter stellte seine Tasse auf dem Tisch ab und schaute Swinston in die Augen.
„Arthur, ich hätte gerne mit dir über persönliche Angelegenheiten gesprochen, aber wenn das Unternehmen Granthon Steels dich schickt, kannst du ihnen das wiederholen, was ich ihnen schon geschrieben habe: Ich werde die Maschine nicht verkaufen, bis ich sie perfektioniert habe.“
Swinston sah kurz schockiert auf und stellte seine Tasse auch auf den Tisch.
„Fünfzig tausend Pounds und eine lebenslange Führungsstelle“, sagte er mit tiefer Stimme. Baxter schwieg ihm ernst, fast wütend, entgegen. Swinston fuhr fort: „Wenn du nur eine solche Stelle hättest, könntest du alle deine Projekte entwickeln. Was wurde, zum Beispiel, aus deiner schienenfreien Eisenbahn? Aus deinem Luftdruckmotor? Bis jetzt musstest du fast alle deine Projekte einstellen... Hast du überhaupt jemals eine von deinen Ideen ausführen können?“
Swinston wandte sich dem Dienstmädchen zu, welches die ganze Zeit reglos in einer Ecke gestanden hatte. Sie trug die übliche schwarze Uniform mit kurzen Ärmeln. Ihre dunklen Haare waren zu einem Dutt nach hinten gebunden.
„Miss, dürfte ich bitte noch eine Tasse haben?“
Sie kam näher und schenkte ein. Als sie die Kanne wieder anhob, ergriff Swinston ihre Hand und fühlte, dass sie keinen Puls hatte. Sie schreckte nicht zurück, sondern schaute ihn mit ausdruckslosen, schwarzen Augen an.
„Sie sind bezaubernd“, lächelte Swinston. „Darf ich Ihren Namen erfahren?“
Die Frau gab nicht die geringste Reaktion von sich.
„Mary“, unterbrach Baxter. „Sie heißt Mary.“
„Ist das so?“, fragte der Gast erneut.
„So ist es, Sir“, antwortete das Dienstmädchen.
„Bezaubernd, zweifelsohne“, wiederholte Swinston und ließ sie los. Dann schaute er wieder zu Baxter. „Nette Idee, die Maschine als Dienstmädchen zu verkleiden, anstatt sie in einer Kiste zu verstauen.“
Trotz der investierten Zeit hatte Baxter längst noch nicht alle Fähigkeiten des Automaten aufschlüsseln können. Da er sich außerdem mit Dienstleistungen und Briefen beschäftigen musste, war er darauf gekommen, die elementaren menschlichen Tätigkeiten des Automaten zu nutzen, um sein Alltagsleben etwas zu erleichtern. Zuerst hatte er die Kurvenscheiben jedes Mal entsprechend dem Bewegungsprogramm eingestellt, um die Maschine kehren, aufräumen oder kochen zu lassen. Nach einigen Tagen aber aktivierte sie sich auch mit nichts als seinen mündlichen Anweisungen. Einen Namen hatte er dem Gerät nicht gegeben, auch wenn er Swinston zur Not belügen musste.
Jetzt ging Baxter den vierten Schritt und sah Mary auf seiner Linken zwischen dem langen Gras vor dem Wald stehen. Sie trug ihre inzwischen übliche Dienstkleidung. Rechts hinter ihr, aus der Entfernung, konnte Baxter noch den Bach in der Dämmerung glitzern sehen. Die Maschine stand ausdruckslos vor sich hin, als wäre ihr das Ergebnis der laufenden Konfrontation egal. Sie ist eine Maschine, dachte er. Es kann ihr ja auch nur egal sein, ob sie verkauft oder auf die Wette gesetzt wird. Ihr dürfte sogar egal sein, ob er ihretwegen starb, und doch ging er den fünften Schritt.
„Was bekommst du eigentlich dafür, wenn du mich verkaufst?“, murmelte Baxter.
„Ich wünschte, ich könnte ein ähnliches Angebot bekommen, Roald, aber nein, ich bin nur ein Botschafter. Was hast du denn davon, die Maschine länger zu behalten? Du bist doch ansonsten so vernünftig. Hast du dich vielleicht zu sehr an Marys Gesellschaft gewöhnt?“
„Arthur, ich bitte dich. Es ist und bleibt doch nur ein Gerät. Aber ich kann kein Gerät verkaufen, welches ich selber nicht verstehe. Was für ein Ingenieur wäre ich dann?“
„Du wärst ein reicher und erfolgreicher Ingenieur!“, lachte Swinston.
„Aber ich würde nicht vernünftig handeln...“, grübelte Baxter unsicher.
„Na gut“, entschloss Swinston beherzt. „Wenn es dir um Vernunft und Ehre geht, spiele ich auch gerne dein Spiel.“ Er nahm aus seiner Brusttasche einen weißen Handschuh und warf ihn auf den Tisch. „Sonntag, am Wealdstone Brook in Kingsbury, sieben Uhr abends.“
„Moment mal“, schrak Baxter auf. „Du scheinst es aber eilig zu haben. Willst du mich wirklich zu einem Duell fordern?“
„Roald, ich bitte dich. Ein Duell wäre doch nicht legal. Ich hoffe aber, dass du als Gentleman trotzdem meiner Einladung folgen wirst. Solange wir beide nach den Regeln spielen und es beim ersten Treffer bleibt, muss niemand sterben.“
Bei den Darts war damals, sowohl bei Baxter als auch bei Arthur, der erste Treffer oft schon ein Bullseye gewesen. Die Gegner mussten sich also entweder darauf verlassen, dass ihr Gegenüber die Übung verloren hatte, oder aber, dass sie beide Gentlemen waren.
Mit dem sechsten Schritt ging Baxter an Mary vorbei und verlor sie aus den Augen. Als er den neunten Schritt gehen wollte, hörte er ein Geräusch hinter sich: einen plötzlichen Sprung, und das gewaltige Schnappen von mechanischen Zangen. Er vergaß die Regeln des Duells und drehte sich um. Swinstons Butler hatte sich auf Mary gestürzt. Anscheinend hatte er die zehn Yard mit einem einzigen Sprung überwunden. Sein Brustkorb war aufgesprungen und heraus kamen drei riesige Zangen, die sich um Mary klammerten. Noch bevor Baxter reagieren konnte, fingen beide Automaten an, mit erstaunlicher Geschwindigkeit rückwärts zu fliegen. Swinston drehte sich nur leicht um, ließ die Pistole in seiner Hand hängen und lächelte seinen Rivalen zufrieden an.
Baxter rannte den beiden Automaten nach. Sie wurden in Richtung der Kutsche gezogen, von einem Kabel, das er bis jetzt nicht bemerkt hatte. Wie konnte er so etwas bloß nicht bemerkt haben? Aus dem Rücken des Buttlers ragte doch eine offensichtliche Kurbel heraus, mit der Swinston ihn vor Baxters Augen mehrmals aufgedreht hatte.
Nach einigen Schritten war der Ingenieur schon halb außer Atem und würde die Automaten nicht erreichen, also nahm er die Pistole und schoss seine erste Kugel. Ziellos polterte der Buttler auf dem Gras herum, als das Kabel zersprang. Trotzdem hielt der Feind Mary immer noch zwischen den Zangen, und Baxter war immer noch fünfzehn Yard entfernt. Im Nu richtete der Butler sich wieder auf und verlängerte seine Beine zu langen Stelzen, auf denen er mit großen Schritten weitereilte.
„Mary, verdammt noch mal!“, schrie Baxter unter schwerem Atmen, „Wehr dich doch! Kämpf' dich frei!“
Als er keine direkte Reaktion von seinem Automaten sah, fragte er sich wieder, ob er überhaupt seine Befehle verstehen konnte. Als Maschine hatte sie doch keinen Verstand, und natürlich auch keinen Selbsterhaltungstrieb - aber es wäre doch so viel einfacher, wenn sie auch in diesem Sinne einen Menschen nachahmte. Er war immer noch nicht darauf gekommen, welcher Mechanismus ihr Verhalten regelte. Hätte es genügt, ihr wörtlich zu sagen, dass sie sich als Regel darum bemühen sollte, sich selbst und die Menschen um sich herum zu beschützen?
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