„Halte durch! Gleich bin ich bei dir!“, rief Henry der Maus zu, die ihn mit angstvoll aufgerissenen Augen anstarrte.
„Nein, geh weg, hau ab, Hilfe, Hilfe, bitte hilft mir doch jemand“, rief sie bevor sie wieder Wasser schluckte.
„Sag mal, spinnst du?“, brüllte Henry. Nur ein paar Zentimeter trennten ihn von der Maus. „Willst du ertrinken oder gerettet werden?“
„Nicht von dir!“, heulte sie. „Hau endlich ab!“
„Was? Wieso nicht von mir?“, schrie Henry und sein Schrei klang beinahe so verzweifelt wie der Schrei der Maus.
„Lieber ertrinke ich, als dass ich von dir gefressen werde!“
„Fressen?“
Jetzt schluckte auch Henry das kalte Waldseewasser. Er konnte es nicht fassen. Was war bloß mit der Maus los?
„Ich will dich nicht fressen. Ich will dich retten. Wie kommst du den überhaupt auf die Idee, dass ich dich fressen will?“
„Blödmann! Du bist ein Lügner“, heulte die Maus. „Du bist eine Katze.“
Wieder schluckte Henry Wasser.
„Bist du krank und blind?“, hustete er. „Ich bin ein Bär. Ein Bär, der dich retten will.“
„Nein!“, heulte die Maus noch einmal auf, dann ging sie unter und tauchte nicht mehr auf. Kleine Blasen stiegen an die Wasseroberfläche. Henry holte tief Luft und tauchte ebenfalls unter. Er riss die Augen weit auf und suchte nach der Maus. Schließlich konnte er sie am Grunde des Sees entdecken. Dort lag sie auf dem Rücken, die Füße steif in die Höhe gestreckt. Henry packte sie an der Schwanzspitze, stieß sich kraftvoll vom Seeboden ab und tauchte mit ihr auf und zog sie an der Schwanzspitze aus dem Wasser. Wie leblos hing sie kopfüber nach unten.
„Hey du, hörst du mich? Mach die Augen wieder auf, hörst du!“, brüllte er und schüttelte die Maus solange, bis sie Wasser spuckte und hustete.
Sogleich fing sie wieder an zu heulen und zu zappeln.
„Lass mich! Bitte lass mich!“, schrie sie.
Doch Henry ließ sich nicht beirren. Mit einer Pfote rudernd und die andere Pfote mit der zappelnden Maus in die Höhe gestreckt, näherte er sich dem Ufer. Als er wieder Boden unter den Füßen spürte und das Ufer nur mehr einen Meter entfernt war, sah er plötzlich ein Spiegelbild im Wasser. Er erschrak. Er erschrak so sehr, dass er die Maus beinahe fallen gelassen hätte. Schnell drehte er sich um, aber niemand war hinter ihm. Was hatte das zu bedeuten?
Die Maus zappelte wieder heftiger und verdrehte panisch die Augen. Henry lief aus dem Wasser und setzte die Maus ab, die wie ein geölter Blitz davonflitzte. Aber das interessierte ihn gar nicht. Er drehte sich wieder um und beugte sich langsam mit größter Vorsicht über die Wasseroberfläche.
Er sah das Gleiche wie vorhin. Er sah keinen Bären. Er sah eine Katze.
Noch einmal drehte er sich verwundert um. Er stand ganz alleine da.
Er rieb sich die Augen. Starrte ungläubig aufs Wasser und starrte auf die getigerte Katze. Henry hob seine Pfote. Das Katzenspiegelbild hob ebenfalls die Pfote. Henry winkte. Und die Katze winkte zurück.
War das wirklich er? Henry Himmelblau?
Seine Knie zitterten als Henry den Kopf so nahe über das glatte Seewasser schob, dass er es beinahe berührte.
Er sah in zwei weit aufgerissene grüne Augen.
Er zwinkerte erst rechts. Dann links.
Er streckte die Zunge heraus.
Und das Katzengesicht machte genau das gleiche wie er.
Noch einmal streckte er die Zunge heraus und sah dabei die Tränen in den grünen Augen. Sie fielen langsam heraus und Henry spürte, wie sie ihm warm aufs Fell tropften.
„Das kann nicht sein!“, schrie er so laut er konnte den See an und schleuderte jede Menge Steine in das Wasser, so dass sein Spiegelbild sich in viele Wasserringe auflöste.
„Ich bin doch ein Bär!“, schrie er.
Henry hoffte, alles sei ein Traum. Und gleich würde er aufwachen. Er tauchte seinen Kopf unter Wasser und hielt die Luft an solange er konnte. Aber als er wieder auftauchte, blieb alles unverändert.
“Was ist passiert?“, schrie er den Himmel und die Sonne an.
„Wieso sehe ich aus wie eine Katze, wenn ich ein Bär bin? Das verstehe ich nicht!“, schluchzte er immer wieder und trommelte mit den Fäusten auf den Boden bis er schließlich erschöpft am Ufer des Sees einschlief.
Als er aufwachte, sah er verwundert die Maus neben ihm sitzen. Natürlich saß sie ein bisschen entfernt von ihm.
„Hey du, was ist denn los mit dir?“, fragte sie ihn schüchtern. „Wieso hast du denn geheult, als ob die Welt untergehen würde?“
Henry antwortete nicht. Er stand wortlos auf und schüttelte sich.
Als Henry aufstand, stand auch die Maus auf.
„Hey Du, merci, danke!“, flüsterte sie und Henry sah, dass ihre Knie schlotterten. „Ohne dich wäre ich ertrunken. Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.“
Henry sah zu ihr herab. Ihr Fell, das inzwischen getrocknet war, glänzte seidengrau. Sie war eine sehr hübsche Maus. Sie hatte wunderschöne rosarote Ohren, hinter denen sich freche Löckchen kringelten und die längsten schwarzen Wimpern, die Henry je gesehen hatte.
„Bonjour, ich bin Muriel“, sagte sie und wischte sich Henrys Tränen von der Nasenspitze. „Also, ich bin Muriel. Muriel mit Ü gesprochen, weil meine Urgroßeltern aus Frankreich kommen.“ Sie machte eine kurze Pause und rollte mit ihren schwarzen Augen, dann sagte sie:
„Freunde?“
Henry starrte auf die kleine Mäusepfote, die sie ihm hinhielt.
„Du willst mit mir befreundet sein?“
Er spürte wie ihm wieder die Tränen hochstiegen. Er musste sich zusammenreißen,
„Ich bin doch eine Katze, ein Kater“, sagte er schließlich und schämte sich.
„Allerdings“, kicherte jetzt die Maus. „Das sieht doch ein Blinder, dass du eine Katze bist! Wie kommst du bloß auf die Idee, ein Bär zu sein?“
Wieder kicherte sie.
Henry schaute sie traurig an.
„Und trotzdem sollen wir Freunde sein?“, fragte er.
Muriel nickte heftig. Mit fliegenden Löckchen.
„Ja, das will ich. Weil du keine normale Katze bist. Statt mich zu fressen, hast mich gerettet! Das ist doch keinesfalls normal! Das mag ich! Und aussehen wie eine normale Katze, tust du auch nicht. Wer hat schon eine blaue Katze gesehen? Für mich steht fest: du bist etwas Besonderes.“
Sie zwinkerte Henry zu, der aussah als ob ein Wunder geschehen sei, das er nicht begreifen konnte.
Er streckte der Maus seine Pfote entgegen und Muriel legte ihre Mäusepfote, leicht wie eine Feder, in die blaue Katzenpfote. Für eine Weile war es still. Schüchtern lächelten sie sich an.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Muriel.
„Henry Himmelblau.“
„Olala! Das passt zu dir!“, rief Muriel. „Warum bist du so traurig, Henry Himmelblau?“
Wieder seufzte Henry. Mit hängendem Kopf erzählte er Muriel seine Geschichte. Er erzählte ihr, dass seine Eltern Bären waren und dass er bis heute geglaubt hatte, auch ein Bär zu sein.
„Die Geschichte ist wirklich komisch, aber deswegen musst du nicht so heulen. Es kenne viel schlimmere Geschichten. Und ganz ehrlich, ich würd ja viel lieber eine Katze sein!“
„Wieso das denn?“
„Ist doch einfach! Dann müsste ich keine Angst vor Katzen haben!“, sagte Muriel schelmisch. Sie sprang auf, verbeugte sich wie eine Schauspielerin auf der Bühne und begann zu singen. Es war eine Mischung aus Sprechen und Singen. Ein Sprechgesang. Es war ein Rap, den sie sang. Laut und hoch.
Wenn ICH
eine Katze wär
wenn ICH
eine Katze wär
ja dann
ja dann
dann wär
mein Leben gar nicht schwer, gar nicht schwer
Henrys Augen wurden heller und heller als er Muriel zusah wie sie abwechselnd von einem Bein auf das andere sprang, mit ihren Hüften wackelte und dabei die hoch erhobenen Pfoten in der Luft nach rechts und links schwang.
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