Ich grübelte und las mir die E-Mail von Christina schließlich noch einmal durch. Cartwright kam aus Europa, aus der Schweiz. Ob er dort etwas entdeckt hat? Oder sogar etwas Außergewöhnliches mitgebracht hat?
Ich musste kurz an den zurückliegenden Fall denken - und an die Auswirkungen, die er nach sich zog und noch ziehen würde. Ob es mit anderen Fällen aus der Vergangenheit zusammenhängt? Bloß nicht noch eine Politaffäre! Das riecht ja förmlich nach internationalen Verwicklungen. Wenn Cartwright ein Kurier oder Bote war, dann kann das ein langwieriger Prozess werden. Hintermänner im Ausland aufzuspüren, ist keine Kleinigkeit. Und außerdem müssen wir uns dann wieder mit anderen Dienststellen in Verbindung setzen, den Auslandsgeheimdiensten. Da kam mir eine Idee: Bestimmt hat mein Chef oder sogar der Direktor einen Anruf vom State Department bekommen, und sie müssen umgehend Ergebnisse liefern.
»Möchten Sie etwas trinken, Sir?«
Ich blickte auf. Die Stewardess stand neben mir und präsentierte wieder ihr freundliches Lächeln.
»Nein, danke. Im Moment bin ich ganz zufrieden«, erwiderte ich. Was ich von diesem Fall noch nicht behaupten konnte. Der zuständige Leiter des FBI-Büros in New York würde mir hoffentlich ein paar nähere Hintergrundinformationen geben können. Ich hasse es, im Nebel herum zu stochern!
2. Die Stadt, die niemals schläft
New York, USA
Sonntag, 7:00 p.m.
Wir landeten pünktlich auf dem JFK-Flughafen im New Yorker Stadtteil Queens. Die Stadt empfing mich mit dunklen Wolken und Regen. Hoffentlich kein schlechtes Omen!
Wie von Christina angekündigt wurde ich erwartet. Zwei FBI-Agenten, ein Mann und eine Frau, passten mich bei der Sicherheitskontrolle ab und geleiteten mich zu ihrem Wagen, einer dunklen Limousine.
»Special Agents Donovan und Miller«, stellte der Mann sie vor. Er sah aus als ob er nebenbei bei den L. A. Lakers in Diensten stand. Groß und durchtrainiert konnte auch der unauffällige dunkle Anzug sein Erscheinungsbild nicht schmälern. Seine Kollegin trug einen etwas auffälligeren farbigen Hosenanzug und wirkte ebenfalls austrainiert. »Wenn Sie uns bitte folgen, Mister Carter, wir bringen Sie zu Assistant Director Anderton. Für Ihr Gepäck wird ebenfalls gesorgt.«
Es sollten die einzigen Worte bleiben, die bis zum Eintreffen im Büro des hiesigen Leiters des FBI gesprochen wurden. Die Frau fuhr und konzentrierte sich ganz auf den Verkehr. Miller hielt es nicht für notwendig, mich noch mal anzusprechen, doch bald kam mir die Idee, dass sie vielleicht auch Anweisung erhalten hatten, mich nicht in meinen Gedankengängen zu stören. Das war dem Nimbus der Abteilung V zu verdanken. Außer dem Quietschen der Scheibenwischer und dem ab und zu brummenden Motor war nicht viel zu hören. Mir kam das entgegen, so konnte ich in aller Ruhe die Fahrt durch die größte nordamerikanische Stadt, die ich in den letzten Jahren durch meinen Beruf so gut kennen gelernt hatte, genießen.
Wir fuhren auf der Atlantic Avenue durch Brooklyn und überquerten den East River auf der Brooklyn Bridge - eine Fahrt von einer dreiviertel Stunde. Viele mit Regenschirm bewaffnete Wochenendausflügler waren unterwegs, und der Strom an Touristen schien in diesem Jahr mal wieder besonders groß zu sein - trotz drastisch gestiegener Sicherheitsmaßnahmen und Einreisebestimmungen. Nach einer weiteren Viertelstunde erreichten wir das Gebäude am Federal Plaza, den Sitz des New Yorker FBI. Assistant Director Anderton - der Leiter des hiesigen FBI-Büros - war etwa fünfzig Jahre alt und von hoher, breitschultriger Gestalt, die ihm in seinem Beruf durchaus Vorteile verschaffen durfte. »Assistant Director Frederick Anderton«, stellte er sich vor.
»Carter, John Carter. Angenehm.«
Er reichte mir seine Rechte und drückte kräftig zu. Ich hielt dieser Geste lächelnd stand.
»Danke sehr, Agents, das wäre zunächst alles«, verabschiedete Anderton mein Empfangskomitee. Die beiden zogen sich diskret zurück. Dann genoss ich seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Zunächst schien er mir ein wenig verärgert zu sein. Ohne Einleitung fragte er mich: »Und Sie kommen wirklich extra aus L. A. hierher, um den Cartwright-Fall zu übernehmen?« Er schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ja, so ist es. Mein Chef - ich habe noch nicht mit ihm gesprochen, sondern nur mit seiner Sekretärin - scheint sehr viel Wert auf Aufklärung dieses Falles zu legen.«
»Ja, ich habe heute Morgen ebenfalls mit ihr gesprochen. Sie hat Sie mir angekündigt.«
»Dann sind Sie also vorbereitet«, wagte ich einen ersten Vorstoß.
Doch er nahm mir schnell den Wind aus den Segeln: »Tut mir leid, Special Agent, aber wir haben noch keine Ergebnisse. Die Ermittlungen laufen zwar auf Hochtouren, aber wir haben mit den anderen Morden weit mehr Probleme!«
»Andere Morde? Welche anderen Morde?«
»Ach, das wissen Sie noch gar nicht?« Er gestattete sich den Anflug eines Lächelns, das allerdings etwas gequält wirkte, und griff nach einem Blatt auf seinem Schreibtisch. »Innerhalb von sechsunddreißig Stunden wurden an diesem Wochenende sechs Menschen getötet. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurde in Queens ein Mann erschossen, auf offener Straße. Keine Zeugen. Kein Motiv erkennbar. Freitag Nachmittag das nächste Opfer. Ebenfalls erschossen, keine Zeugen, kein Motiv erkennbar. In der Nacht von Freitag auf Samstag der nächste Tote, diesmal in Manhattan, in der Nähe des Madison Square Garden. Tatwerkzeug war diesmal ein Messer und das Opfer eine Frau. Drei Stiche, jeder davon war tödlich. Im Laufe des Samstags drei weitere Tote, ein Erwürgter in Brooklyn, ein Mann in Chinatown und eine Frau auf Long Island, die von einem Auto überfahren wurde. Der Mann wurde aus geringer Distanz erschossen. Und am Abend schließlich Ihr Mann, Nummer sieben. Er wurde niedergestochen.«
»Hm. Eine ganz ordentliche Quote. Und es gibt keine Zusammenhänge zwischen den Morden oder den Opfern?«
»Keine. Die verschiedenen Tötungsarten deuten auf unterschiedliche Täter, vielleicht sogar Motive. Unsere Spezialisten sind noch dabei, entsprechende Profile zu erstellen. Ich räume ihnen allerdings keine große Chance ein, einen Zusammenhang zu finden, denn bis auf die Tatsache, dass alle Opfer von außerhalb kamen und keine New Yorker waren, gibt es keine Gemeinsamkeiten. Vier von ihnen waren Ausländer, und damit kommen wir dann ins Spiel.«
»Ja, das übersteigt die Zuständigkeit der Polizei natürlich. Haben Sie denn in Bezug zu den Ausländern bereits eine heiße Spur? Vielleicht kennt man die an anderer Stelle, oder es waren einfache Touristen, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren?«
»Den Gedanken hatte ich auch bereits. Und ich habe in Langley angefragt und um Unterstützung gebeten.«
»Und unsere Kollegen von der CIA haben natürlich sofort alles stehen und liegen lassen als Ihre Anfrage kam?«, fragte ich ironisch.
»Natürlich«, erwiderte er in dem selben Tonfall. »Und sie arbeiten noch daran.«
»Hmm.«
»Genau. Erst mal stecken wir fest. Raubmord kann man bei den ersten sechs Opfern ausschließen, bei allen Leichen fand man Brieftasche oder Ähnliches, daher konnten sie auch so schnell identifiziert werden. Es scheint völlig willkürlich zu sein, ohne jeden Zusammenhang; ein erster Verdacht geht in Richtung eines psychopathischen Serienkillers, doch finden Sie den mal in einer solchen Metropole und ohne weitere Zeugen. Und nun kommen Sie von der Spezialabteilung und haben einen einfachen Raubmord aufzuklären. Das verstehe ich nicht!«
»Ich verstehe es auch nicht. Noch nicht. Aber mein Chef wird schon so seine Quellen haben.«
»Anzunehmen«, brummte Anderton.
»Was wissen Sie sonst noch von den Toten?«
»Das erste Opfer kam aus Argentinien, das zweite aus Honduras, die ermordete Frau aus Russland, und der vierte Tote war vor einer Woche aus Israel eingereist. Ein Mann aus Malaysia und eine Frau aus Atlanta setzen die traurige Bilanz dann fort, bevor Ihr Mann, Cartwright, schließlich ermordet wurde. Und der nutzte New York als Zwischenstation.«
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