Am nächsten Tag mache ich mich nach dem Mittagessen direkt auf den Weg zu Oma. Nur nicht mit leerem Magen zu ihr gehen, denn dann verklagt sie Mama noch, dass sie mich verhungern lässt- wie Omas halt so sind. Am liebsten würde sie sowieso jeden mästen, bis man zu ihr ins Altersheim rollen könnte; „life goal“, wie man heutzutage sagt. Oma sieht richtig gut aus, ihre Gesichtsfarbe ist so rosig wie immer und sie begrüßt mich mit wachem, freundlichem Blick. „Nadja, Liebling! Schön, dich auch mal wieder zu sehen. Komm, gib mir ein Küsschen!“ Das obligatorische Oma-Küsschen darf auch diesmal nicht vergessen werden. „Wie geht es dir, meine Kleine?“, fragt sie glücklich. „Gut, Oma, danke. Hab gerade in der Schule ein wenig Stress, aber ansonsten könnte ich mich nicht beklagen“, antworte ich. Da ist Oma schon bei einem ihrer Lieblingsthemen angelangt: “Ja, ja, früher war das alles anders, da wurde in der Schule noch nicht so viel von einem verlangt und auch nicht so viel Druck ausgeübt. Irgendwann wirst du daran noch kaputtgehen!“ „Ach was, Oma, das Schuljahr dauert ja nicht mehr so lange und dann kann ich den ganzen Sommer lang entspannen. Ich muss mit den Noten ja nicht Sonja nacheifern, aber ein schöner Durchschnitt würde sich doch gut anfühlen, oder?“, entgegne ich. Sonja ist meine ältere Schwester, sie war schon immer eine Musterschülerin- sowohl in der Schule, als auch jetzt im Studium. Sie schreibt immer nur Einser und ganz selten eine Zwei. Aber sie ist eben so ehrgeizig, dass sie nicht mit dem Lernen aufhört, bis sie jeden Beistrich draufhat. Ich hingegen bin zwar nicht faul, lerne aber nur so lange, bis ich mir bei allem einen groben Überblick verschafft habe und genieße den Rest des Tages. Mein System funktioniert bis jetzt einwandfrei, ich schreibe zwar nicht so viele Einser wie Sonja, halte aber meinen Durchschnitt zwischen 2 und 2,5. Oma findet dieses „neue Schulsystem“ absolut verwerflich und ist davon überzeugt, dass es uns alle irgendwann verderben wird. So weit wird es zwar hoffentlich nicht kommen, aber ich muss schon zugeben, dass ich mir oft wünsche, in einer Klasse der früheren Generationen zu sitzen, wo man nur die essentiellen Dinge des Lebens lernen musste: lesen, schreiben, rechnen etc. Was soll ich sagen? Die Zeiten haben sich eben geändert. „Wie sieht es eigentlich in deinem Liebesleben aus? Gibt es da endlich jemanden?“, reißt mich Oma aus meinen Gedanken. „Ach Oma, nein! Dafür habe ich momentan einfach keinen Kopf und auch überhaupt keine Zeit. Neben der Schule verbringe ich doch so viel Zeit in den Vereinen des Dorfes, da kann ich mich nicht auch noch um eine Beziehung kümmern!“, entgegne ich. „Sehr gut“, antwortet Oma zufrieden, „genau so wünsche ich es mir. Schau zuerst mal auf dich und mach etwas aus dir, und das mit der Liebe klappt danach ganz von alleine.“ „Ja, Oma, ich weiß“, seufze ich. Nicht, dass ich mich einsam fühlen würde, aber gerade jetzt im Frühling sind alle meine Freundinnen frisch verliebt und turteln ständig mit ihren Freunden herum, während ich ein ewiger Single bin. Ich weiß, ich sollte meine Freiheit zu schätzen wissen, da ich ja nicht weiß, ob ich nach der Matura mal studieren möchte und vielleicht wer weiß wohin ziehe, aber trotzdem wünsche ich mir oft ein bisschen Nähe. Jemanden, mit dem ich Kuscheln und vor dem Fernseher einschlafen kann. Naja, wie Oma immer sagt: „Gut Ding braucht gut Weile“. „Du, Oma, ich bin eigentlich gekommen, um dir ein paar Fragen zu stellen. Ich weiß schon, dass du nicht so begeistert sein wirst, aber mich würde es brennend interessieren, was es mit dem Brief auf sich hat, der in der Kiste ist, die du bei deinem Umzug bei uns untergebracht hast. Ich habe gestern den Dachboden aufgeräumt und bin dabei auf den Brief gestoßen. Oma, wer ist oder war Franz Lochmann und warum war der Brief an ihn nicht zustellbar?“, wage ich schließlich zu fragen. Meine Oma starrt mich entgeistert an und seufzt. „Ich werde wohl nicht daran vorbeikommen, diese Geschichte endlich mal zu erzählen. Ich habe sie noch nicht mal deinem Vater erzählt, musst du wissen. Franz Lochmann war… Man könnte sagen, dein Großvater. Du wirst jetzt natürlich denken, dass dein Vater und deine Tante Monika erst lange nach Kriegsende geboren wurden und da hast du Recht. Franz war meine erste große Liebe, musste aber an die Kriegsfront und ist nie mehr zurückgekommen. Nachdem ich die Nachricht einigermaßen verarbeitet hatte, wusste ich, dass das Leben weitergehen musste und habe deinen Opa Herbert geheiratet. Mit ihm habe ich deinen Vater und deine Tante bekommen, aber Franz war und ist meine große Liebe und ich habe ihn nach seiner Einberufung nie wieder gesehen“ Oma muss ihre Tränen zurückhalten. Ich finde es schrecklich, dass sich zwei Menschen verlieren, nur weil zwei oder mehrere Nationen sich bekriegen. Und ich finde es beeindruckend, dass es meiner Oma nach all den Jahren immer noch so nahegeht. „Das ist die Kurzfassung der Geschichte, mehr musst du für heute nicht wissen“, bringt Oma noch hervor, bevor sie mich zur Tür drängt. Sie wollte noch nie Gefühle zeigen und daran wird sich wahrscheinlich auch nie etwas ändern. „Alles klar, Oma, danke für deine Zeit und fürs Erzählen. Ich weiß das zu schätzen“, sage ich und drücke ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Tschüss, Oma, wir sehen uns bald wieder!“ Nachdenklich mache ich mich auf den Weg nach Hause. Warum nur hat Oma nie davon etwas erzählt, dass sie mal mit einem Soldaten zusammen war? Ich meine, natürlich fällt es ihr schwer, darüber zu reden, aber sie hätte uns sicher sehr schöne Geschichten von ihm und ihrer Beziehung erzählen können.
Am nächsten Tag empfängt mich Mama mit einer überraschenden Nachricht, als ich von der Schule nach Hause komme. „Oma hat gerade angerufen, sie möchte, dass du sie heute nochmal besuchen kommst… Sie hat etwas für dich“, erklärt mir Mama. „Okay, mache ich. Weißt du, worum es geht?“ „Nein, davon hat sie nichts gesagt, nur, dass ich es dir ausrichten soll“, antwortet Mama. „Na gut, dann esse ich jetzt was, erledige meine Hausaufgaben und mache mich dann auf den Weg zu ihr. Wie sieht es auf dem Dachboden aus?“, erkundige ich mich. „Einigermaßen ordentlich. Es muss ja nicht perfekt aussehen, wenn die Handwerker kommen, aber ein bisschen Ordnung wäre halt sehenswert. Aber ich glaube, so können wir es jetzt lassen.“
Oma wirkt ein bisschen nervös, als ich in ihr Zimmer trete. „Hallo, Oma! Was gibt es denn so Wichtiges?“, begrüße ich sie. „Hallo, Nadja. Setz dich. Ich habe etwas für dich aus meiner Erinnerungskiste herausgesucht, das ich dir gerne geben würde.“ Sie holt ein Bündel vergilbter Briefumschläge aus einer Schublade ihres Nachtkästchens und reicht sie mir. „Das sind die Briefe, die Franz und ich uns geschrieben haben, beziehungsweise die Briefe, die ich von ihm erhalten habe, als er mir noch antworten konnte. Ich habe sie noch niemandem gezeigt, auch nicht deinem Vater oder deiner Tante. Ich denke, du bist jetzt alt genug und zeigst auch das Interesse, etwas von deiner Familiengeschichte zu erfahren. Außerdem weiß die Jugend von heute viel zu wenig über die Option und die harten Jahre, die darauf folgten. Lies dir die Briefe in Ruhe durch und wenn du damit fertig bist, kommst du einfach wieder her und ich erzähle dir den Rest der Geschichte. Einverstanden?“ Ich ertappe mich dabei, wie ich Oma verdutzt ansehe. „Ja, klar, danke Oma. Ich nehme sie gleich mit nach Hause und beginne mit dem Lesen. Hab dich lieb und danke für dein Vertrauen!“
Zu Hause sehe ich mir den Stapel genauer an. Das müssen an die 25 Briefe sein, die Oma erhalten hat. Na, da weiß ich ja, wie ich den heutigen Abend und vielleicht sogar die halbe Nacht verbringen werde.
Neumarkt/Schanze, im Jahr 1940
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