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Die alte Frau Johannson von nebenan macht beim Fensterputzen weiter. „So schön war mein Johann auch mal - ach ja.” Sie seufzt ein wenig und schmunzelt. Über 70 Jahre ist das her. Das war noch vor dem Krieg.
Sie war 17 und ihr Johann ein wenig über 19; er hatte gerade den Reichsarbeitsdienst hinter sich und genügte seiner Militärpflicht in der Wehrmacht. Aber was waren das für herrliche Tage, damals im Sommer, als er auf Urlaub nach Hause kam. Und wie gern hat sie sich von ihm am Lensterstrand nach dem Schwimmen verführen lassen. Sie waren so jung, und er war ein so guter Liebhaber, ein Naturtalent, denn sie wußte, daß sie sein erstes Mädchen war, wie er ihr erster Mann. Und wie leidenschaftlich hatten sie sich geliebt. Ihre Mutter hatte sehr geschimpft, als sie erst spät am Abend nach Hause kam. Nur ihr Vater hatte Verständnis. „Lot de Deern tofreden, de hett ’n Leefsten. Du büst suustein wes as wi tom eersten Mal. --- Hest dat vergeten?” Von da an war ihre Mutter still und freute sich sehr, als sie übers Jahr zum ersten Mal Großmutter wurde. Beide waren sie noch nicht volljährig und brauchten die Erlaubnis zum von beiden Eltern, aber das ging nach ein wenig Schimpfen in Ordnung. Und als dann ihr erster Sohn zur Welt kam, da strahlte die ganze liebe Verwandtschaft. Ein Stammhalter löschte alle Bedenken aus. Und gerade als Johanns Dienstzeit beendet gewesen wäre und er auf den Hof kommen sollte, da ging 1939 der Polenfeldzug los. Sie sah ihn nach dem Sieg, von allen für sein EK Zwo bewundert, wenige Tage zu Weihnachten; er ließ ihr ein Andenken da, das bald nach dem Frankreichfeldzug krähend in der Wiege lag. Er kam noch einmal Weihnachten 1940 nach Hause, sein Andenken blieb da, und dann hatte er Glück, kam 1943 aus Rußland weg auf eine der Kanalinseln, konnte nach einer schweren Verwundung nicht mehr an die Front und wurde auf Jersey vom Engländer gefangengenommen. 1946 kam er mit seiner leichten Gehbehinderung bereits nach Hause. Der Tommy hatte ihn nicht mehr für gefährlich gehalten, den Feldwebel Johann Johannson. Aber die Schmach, ihm sein EK Eins und seinen Portepeedolch weggenommen zu hatten, verzieh er ihnen sein Leben lang nicht. Seine Jungs hatten erst etwas gefremdelt, aber da ihr Johann so große Freude an seinen Söhnen hatte, machte sie noch einen mit ihm. Er war immer noch ein guter Liebhaber gewesen, aber nach dem Krieg sehr nachdenklich geworden und hatte es gar nicht gern gesehen, daß sein Erstgeborener 1958 freiwillig zur Bundeswehr gegangen war. Jan war dann auch als Hauptbootsmann ausgerechnet an Land, bei einem Autounfall nahe Kappeln, ums Leben gekommen, gerade als er die richtige Frau fürs Leben gefunden hatte und die Beförderung zum Stabsbootsmann bevorstand. Friedrich hatte in Bayern, weit weg in Ingolstadt, in der Autoindustrie eine gute Arbeit gefunden, autoverrückt, wie er war, eine Einheimische geheiratet, die kein Platt verstand, und die beiden Enkelinnen hat sie kaum je gesehen. Ernst wurde Handelsschiffskapitän und fand keine Zeit zum Heiraten, hatte einen unehelichen Sohn in Amerika gemacht, von dem sie gerade mal ein einziges Photo zu sehen bekam und ihr “Kleiner”, Onno, hatte sich bei einem Urlaub in Schweden in Anna verliebt, drei hübsche blonde Söhne in die Welt gesetzt, aber die sah sie bestenfalls einmal im Jahr. Tja, und ihr Johann hatte sie vor 10 Jahren für immer verlassen.
Ihre danach beginnende beschauliche Einsamkeit, vom Dorfkaffeekränzchen abgesehen, wurde so angenehm unterbrochen, als die Malvoisins nebenan einzogen. Die lütte Tessa durfte bald zum Rasenmähen kommen, Karin ging immer mal für sie einholen und Christian kam zum Heckeschneiden. Und dabei sah sie ihm gern zu. Sie war nun mal eine alte Oma geworden, aber einen seuten, staatschen Jung’ antokieken, dafür fühlt sie sich nach wie vor nicht zu alt. Dann denkt sie an ihren schönen Johann, damals vor dem Krieg, und träumt von den wild-zärtlichen Stunden am Lensterstrand, wenn sie beide alles um sich herum vergaßen, und nur jung und schön und lieb zueinander waren. Und dann spürt sie wieder seine zärtlichen Hände, die so kräftig von der Feld- und Hofarbeit waren, aber durch seine feine Seele so liebevoll gemacht wurden. Dann vergaßen sie sogar den österreichischen Postkartenmaler mit dem schrecklichen kleinen Schnurrbart. Der Pastor hatte sie im Stillen gewarnt, der würde sie noch alle ins Unglück führen. Und die dafür bezahlt haben, kann man am Kriegerdenkmal nachlesen.
Es macht ihr Freude, Christian anzusehen. Daneben kann man ja auch Fensterputzen. Frauen können mehrere Dinge gleichzeitig tun. Da ist Frieda Johannson keine Ausnahme. Auch mit fast 90 nicht. Und den dummen alten Weibern, wie sie sie nennt, die sich aufregen, wenn jemand nackt herumläuft, „Huch, der hat ja nix an!”, stellt sie immer wieder die Frage „Ward Ihr nie jung? Ward Ihr nie am Lensterstrand? Hebbt ji joon Kinners mit‘e Plünnen an mookt?”
Die alte Hermine, mit ihren 91, nickt dann immer schmunzelnd, und Frieda Johannson weiß, warum. Hermine Jaspers, die nie viel sagt, das macht sie alles mit ihren lustigen Augen und einem immer wiederkehrenden verschmitzten Zwinkern, hat mit 18 einem Berliner Bildhauer Modell gestanden, als “Brunnenmädchen”, und vor dem Problem der Kleiderwahl stand sie damals ganz sicher nicht. In einem Museum kann man das immer noch betrachten, aber sie sagt nicht wo. Hermine lächelt nur. Wat geit dat de Lüüd an?
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Christian öffnet seinen Schrank. „Kurze Jeans oder lange? - Übrigens, was sollte das vorhin ‚Ist ja so gar nichts zu sehen’. Kann man das übersehen?” Christian dreht sich zu Jan um, der sich bereits entkleidet und im Hose-fallen-lassen feststellt: „Ganz sicher nicht. Wie Du schon ganz richtig festgestellt hast: Wir haben eine Größe.”
Für ein paar Minuten gefallen sie sich in gegenseitiger Bewunderung. Dann erinnert Christian etwas, als er gerade nach den passenden Stücken für Jan suchen will.
„Sag’ mal, wann war der Termin für die Kalenderphotos bei meinem Großonkel Florian?” „Übermorgen, schon vergessen?” Jan streift seinen ebenfalls naßgewordenes Slip ab und legt ihn zu seinen übrigen Sachen.
Da schlägt er sich mit der flachen Hand vor die eigene Stirn. „Mann, jetzt hätte ich beinahe vergessen, warum ich gekommen bin.”
„Na, dann spuck’s aus.” Christian lehnt sich entspannt gegen den Schrank.
„Ich habe vor ein paar Tagen in Lenste eine Wahnsinnsfrau kennengelernt, an dem Tag, an dem Du keine Zeit hattest.”
„Ja, und?”
„Sie hat mir ohne Umschweife erklärt, sie sei Bildhauerin und würde mich als Modell für einen David haben wollen, stell’ Dir vor.”
„So richtig als Statue auf einem Sockel in Marmor?” „Marmor, Granit, Sandstein, Gips, was weiß ich, Hauptsache Modell - und dann gleich als David. Ist das nicht geil?”
„Wie alt ist sie denn, diese Bildhauerin?”
Jan überlegt kurz. „Na, so 26, 27 wird sie schon sein.”
„Und was zahlt sie?”
Jan sieht Christian ein wenig entrüstet an. „Denk’ doch nicht gleich ans Geld, Mann. Vielleicht geht ja ‘was bei ihr. Geld gebe ich nur aus, ein Fick bleibt mir.”
„Wenn Du das so siehst.” Christian zuckt mit den Achseln. „Und was soll ich dabei?”
Jan geht auf Christian zu, nimmt ihn bei der Hand, zieht ihn vor den Spiegel, stellt sich hinter ihn und dreht Christian in Position.
„Hast Du Dich in letzter Zeit mal angesehen, hm?” Christian muß grienen. Er hat schon mal seine selbstverliebten “fünf Minuten“.
„Siehst Du. Du bist ein schöner Kerl, denk an den ersten erfolgreichen Kalender, und das wird sie auch bemerken. Wenn sie aus mir einen David machen will, dann wird sie Dich als Apoll gleich daneben stellen.”
Christians Miene wechselt zu Ungläubigkeit. „Meinst Du wirklich?”
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