06:07 Uhr. Während er zurück durch die Schleuse eilte, glomm eine Meldung aus der Zentrale in seinem Visier auf.
Das künstliche Gesicht von Mona erschien. »An alle Team 1 Officers: Ein blockiertes Türkraftfeld verhindert den Zugriff auf den Wartungstechniker Antonio Cabrallo. Unsere Droiden, die den Mann arretieren sollen, installieren soeben schweres Gerät, um die Wohnung zu stürmen. Des Weiteren ist Cabrallos Signatur von meinen Scannern verschwunden. Achtung, ich wiederhole: Der Verdächtige ist nicht mehr zu lokalisieren! Ich erteile dem Vorgang Sol-Red-Status. Höchstes Sicherheitsrisiko bei den Ermittlungen. Die Zugriffspriorität für die Zielperson wird angehoben.«
Zum ersten Mal heute meldete sich Coffees Instinkt. Trotz gegenteiliger Indizien mussten die tote Frau und dieser Techniker in Verbindung zueinander stehen. Beide waren Teile eines Puzzles, dessen Zusammenhänge er nicht durchschaute, und daran trug dieser Schwachkopf eine beträchtliche Mitschuld. Jetzt rannte ihm die Zeit davon.
Der Master-Officer betrat die Kammer und stand neben der Leiche. Es handelte sich tatsächlich um eine Frau, übel zugerichtet, aber unverkennbar weiblich. Sie trug keine Kleidung, lag auf dem Rücken und besaß die gleiche blaue Hautfarbe wie das Brymm. Ihr Körper war übersät von Schnittwunden sowie Kristallstücken, die in der Haut steckten.
Dass sie nicht zerrissen wurde, grenzt an ein Wunder!
Die Verletzungen wirkten echt – die Haut, das Fleisch – keine Kunstmaterialien wie die von Droiden, sondern menschlich, nur blau. Der Boden unter ihr schwamm in einer bläulich schimmernden Flüssigkeit, bei der es sich nach Coffees Vermutung um ihr Blut handelte. Einiges davon klebte an den Wänden.
Er nahm eine Probe und schob das Röhrchen in die dafür vorgesehene Öffnung an der Hüfte seines LiSi. Um den linken Ärmel leuchteten mehrere holografische Anzeigen auf, die ihn über den Fortschritt der Analyse informierten.
Die auffälligste Wunde der Toten fand sich jedoch in der Herzgegend. Dort klaffte ein faustgroßes, fluoreszierendes Loch, von dessen Rändern Leuchtpartikel aufstiegen.
Der Sol Guard-Mann konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben eine vergleichbare Wunde gesehen zu haben. Mithilfe des medizinischen Fachwissens seines SuperMindCell identifizierte er das Loch als eine Verletzung, die weder von einer Waffe noch von einem Kristall herrührte. Anscheinend war etwas aus der Frau herausgeplatzt oder mit Gewalt entfernt worden. Er ging in die Hocke und führte einen Close-Up-Scan durch, der in die Tiefen des Körpers eindrang. Dieser bestätigte ihm, dass sie keinen MindCell besaß – und sich ihre Genstruktur fundamental von der eines Menschen unterschied.
Coffee stieß die Luft aus. Zu allem Überfluss fehlte ihr Herz.
Welche Art Frau war das, vor der er kniete? Ein Laborexperiment? Oder doch ein Droide?
Vielleicht keines von beiden …
Gehörte jenes Wesen zu der neuen Produktreihe der Gyronics-Tech Corporation, die vor wenigen Monaten die perfekte Menschmaschine, den »Humoid«, auf den Markt gebracht hatte? Die Klonroboter existierten erst in geringer Stückzahl, besaßen durch die Zellregeneration ihrer organischen Teile relative Unsterblichkeit und durften aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Imitation von Lebewesen, eines Unsichtbarkeitsmodus und ihrer Waffenbestückung, nur mit einer Sonderlizenz verkauft werden. Nevis Korvalinski besaß eine solche Lizenz.
Coffee hatte Korvalinskis Humoid »Callisto« bei dessen Inbetriebnahme zum Leibwächter kennengelernt und die ganze Zeit eine nicht greifbare Bedrohung im Raum verspürt. Die halbsynthetischen Wesen der nächsten Generation umgab etwas Seelenloses. Sie strahlten Allmacht und Unbarmherzigkeit aus.
Aber es spielte keine Rolle, um welche Lebensform es sich bei der Leiche handelte, denn sie hätte sich nicht in einem Hochsicherheitsbereich wie diesem befinden dürfen. Nicht einmal ein Humoid vermochte mithilfe seines Tarnsystems eine Mine zu infiltrieren. Geschweige denn ein Mensch.
Über das Sonnensystem verstreut lebten zwar ethnische Gruppen, die den MindCell aus religiösen Gründen ablehnten, solche Leute ließ man aber nicht nach Kap Rosa einreisen. Zudem verhinderten in der Stadt tausende Kontrollpunkte durch Paralysestrahlen die Fortbewegung von Individuen ohne Biochip oder denen, deren DNA von der Norm abwich.
Der Master-Officer scannte gründlich die Herzwunde der Frau und entdeckte Fremd-Zellen. Neben seinen eigenen und denjenigen des Hornochsen Cit, registrierte das Gerät Partikel von … Antonio Cabrallo! Also doch!
Wie hatte der Miner es trotz gegenteiliger Überwachungsberichte geschafft, bis hierher vorzudringen? Noch verwirrender daran war, dass seine DNA-Fährte in den oberen Etagen der Anlage endete und hier wieder auftrat. Weiterhin entsprach der Fund dem Genom des Technikers zwar, stimmte aber nicht hundertprozentig überein. Die Analyse zeigte Ungereimtheiten, interpretierbar als Mutationen. Warum hatten die Kontrollpunkte von Kap Rosa darauf nicht angesprochen?
Als Coffee an Monas letzte Meldung um die verlorene Lokalisierung von Cabrallo dachte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Der Mann war in der Lage, seine Signatur zu verändern oder das Signal sogar abzustellen. Unglaublich, aber die logischste Erklärung. Nur so hatte er als Geist die Zelle erreichen können. Hingegen blieben seine anormale Bewegungsgeschwindigkeit und die Veränderung seines Gencodes ein Rätsel.
Na hallo … was ist denn das? Coffee pfiff durch die Zähne. Sein Scanner hatte an der Frauenleiche inaktive Nanobots festgestellt. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, denn die mikroskopisch kleinen Helfermaschinen der fast ausschließlich verwendeten Aegis-Klasse arbeiteten in jedem menschlichen Blutkreislauf. Aber diese Bots hier gehörten nicht zur Aegis-Klasse. Sie gehörten zu gar keiner bekannten Klasse, und sie trugen weder die Kennung der Toten, noch die von Cabrallo.
Der Fall wird immer mysteriöser. Gibt es einen dritten …? Der Master-Officer hielt inne und horchte erneut in sich hinein.
Endlich stehen die Überwachungskamera-Aufnahmen der Zelle zur Verfügung! Nun würde er sehen können, wie die Frau zur Tatzeit die Kammer betrat.
Er ließ sich das Material einspielen, das sofort über sein Visier flimmerte.
Um 04:14 Uhr, bei laufendem Betrieb und eine Minute bevor die Zelle den Alarm ausgelöst hatte, öffnete sich entgegen Coffees Erwartungen keineswegs die Schleusentür. Vielmehr entstand zwischen den wirbelnden Kristallen eine Energieentladung im Raum.
Er traute seinen Augen nicht, als die blauhäutige Frau in jener Entladung auftauchte, von den Brymm-Stücken getroffen und mit ihnen durch die Schwerelosigkeit geschleudert wurde. Während ihr Körper wie ein Blatt dem Sturm ausgeliefert war, streckte sie die Arme von sich und begann zu leuchten.
Und jetzt geriet die Sache noch absurder: Ihr Brustkasten platzte auf. Aus der Öffnung ergoss sich eine Flut ultrahellen Lichts, in dem ihr Herz zu erkennen war – ein fremdartiger, pulsierender Gegenstand.
Die Zelle schaltete sich ab, die Frau stürzte zu Boden und blieb liegen. Anschließend fielen die Kameras aus und die Aufnahme endete.
Begleitet von einer Meldung knüpfte der Computer von Coffees LiSi an das Geschehen an, indem er eine Simulation des weiteren Tathergangs auf das Visier projizierte. Acht Minuten nach dem Tod der Frau erschien Antonio Cabrallo, griff in den Thorax der Leiche, entfernte einen funkelnden Gegenstand und verschwand.
Er hat ihr Herz mitgenommen!
Der Sol Guard-Officer war wie gelähmt. Das übertraf seine wildesten Vermutungen. Ob sich die Ereignisse bis ins Detail so abgespielt hatten, blieb ungewiss, aber wenn nur die Hälfte davon den Fakten entsprach, präsentierte sich der Fall in einem neuen Licht.
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