Der Junge zuckte zusammen und starrte Ambrosia an.
Sie redete weiter wie mit einem Kind. »Oh nein, Schatz, hab keine Angst. Du kannst nicht versagen. Ich habe bereits alle Vorbereitungen für dich getroffen. Pass auf, es ist ganz leicht …«
Cits Augen weiteten sich. Sein Oberkörper knickte nach vorne, er ging in die Knie und klappte wie ein nasser Sack zusammen. Er begann stark zu zittern, als ob er von einem epileptischen Krampfanfall geschüttelt wurde und schrie sich die Seele aus dem Leib. Risse bildeten sich in seinem Schutzanzug. Gleichzeitig traten an seinem Hals dunkle Aderstränge hervor, die bis ins Gesicht hochliefen.
In dem Augenblick, um 06:11 Uhr, brach die Verbindung zu ihm ab. Auch das Bildsignal der Frau verschwand.
Coffee handelte. Er kontaktete die Zentrale, erntete aber erneut Schweigen. Auf Unterstützung würde er nicht zählen können – dieses Biest musste an dem Kommunikationsausfall schuld sein. Wie kann ein Hackerprogramm die Sicherheitsbarrieren der Sol Guard aushebeln?
Er bellte LD-U20-3 und dem Medic-Droiden den Befehl zu, die Leiche zu bewachen, woraufhin der Lockdown-Droide seine Schild- und Waffensysteme aktivierte und in Stellung ging.
Beim Hinausstürmen aus der Kristallkammer fragte sich der Master-Officer, ob eben tatsächlich ein bläulicher Schimmer den Körper der Toten umspielt hatte. Dann hetzte er durch den Schleusenbereich. Seine Waffe glitt ihm wie von selbst in die Hand und der LiSi generierte einen Schutzhelm.
Auf der Rampe stoppte er abrupt.
Niemand war zu sehen, nur Cits Anzug lag in Fetzen am Boden. Von dem Jungen fehlte jede Spur. Kein Blut. Kein Lebenszeichen.
Coffee fragte sich, welche unheimliche Art der Kontrolle die Computerintelligenz über Cit besaß.
Die Lüfter summten monoton.
Und dieser stechende Geruch erfüllte wieder die Luft.
~10~
*** 06:07 Uhr ***
*** Kap Rosa, Sektor C, Tower 3 ***
Vor der Shuttle-Bay für Nahverkehrsgleiter auf Ebene 35 entfaltete sich die Hektik der Rushhour. Lester Benx wurde Teil des Menschengewühls, das die Ein- und Ausgänge der Abfertigungshallen in dem geschwungenen Tower-Flur umspülte.
Drinnen quetschten sich die Ankommenden und Abfliegenden durch eine Batterie von Laufgängen, deren MindCell-Kontrollpunkte von Sol Guard-Wachpersonal und Kristalldetektoren ergänzt wurden. Besonders die Minenarbeiter waren aufgrund der strengen Sicherheitsauflagen an den Abgleich ihrer Flüge mit dem Schichtplan gebunden, und erst nachdem die Stadt-KI Selene die Genehmigung erteilt hatte, durfte ein Arbeiter passieren. Lesters Rang als Chief-Officer gestattete ihm hingegen das schnellere Vorankommen durch ein Gate, welches dem Personal vorbehalten war.
Gegenüber im Ankunftsbereich bildete sich ein Stau. Eine Einheit Patrol-Officers der POE überprüfte zwei Zivilisten. Anscheinend hatte das Pärchen versucht, sich ohne Landeerlaubnis oder Fluglizenz an den Signatur-Scannern vorbei zu mogeln. Der junge Mann diskutierte aufgebracht mit den Cops, während seine Begleiterin, eine Asiatin, vor lauter Nervosität von einem Fuß auf den anderen trat.
Lester kümmerte sich nicht darum. Alltagslappalien gehörten kaum zu seinem Ressort, und aufhalten konnte er sich damit nicht. Es erschien ihm zwar merkwürdig, dass die drei Polizisten die Kontrolle des Pärchens nicht den Leuten seiner Firma überließen. Doch hauptsächlich beschäftigte ihn im Moment Allison Vangristen, die ihm hier irgendwo auflauerte. Die Leiterin der ISGA hatte ihn vor wenigen Minuten kontaktiert und war nicht davon abzubringen gewesen, ihn hinunter in Mine C zu begleiten, zum Tatort und der Frauenleiche.
Gerade als Lester zwei Staff-Officers mit einem Kopfnicken grüßte und die Kollegen von ihrem Terminal aus zurück nickten, aktivierte sich sein Holo-Visier.
Mona informierte Team 1 über das Droiden-Kommando, das bei der Wohnung Antonio Cabrallos eingetroffen war. Der Wartungstechniker hatte allerdings sein Türkraftfeld blockiert und sich der Verhaftung widersetzt. Weitere Minuten würden vergehen, in denen die Roboter schweres Gerät vor dem Quartier installierten, um es mit Gewalt zu öffnen. Der kritischste Punkt war jedoch die Ortung des Mannes, die laut Mona verloren gegangen war – vielleicht befand er sich bereits auf der Flucht.
Lester nahm den Bericht mit Sorge zur Kenntnis. Wenn sich ein Bürger durch die Manipulation der Kraftfeldverriegelung dem Zugriff der Behörden entzog, machte er sich strafbar. Jemand bei klarem Verstand riskierte keinesfalls seinen Job auf die Weise. Er gab Mona den Befehl, den Ermittlungen den Sol-Red-Status zu erteilen und die Zugriffspriorität für den Miner anzuheben. Außerdem sollte die KI die Verhaftung durch weitere Droiden-Kommandos forcieren und die Ebenen 44 bis 46 abriegeln lassen. Verschärfte Kontrollen galten ab jetzt für alle Shuttle-Plattformen des Towers.
Als der Chief-Officer das Terminal passierte und sich über das Ausbleiben von Coffees MindCell-Daten zur Spurensicherung in der Mine zu wundern begann, erreichte ihn ein weiteres Gesprächssignal. Simon Isherhill leuchtete in seinem Visier auf. Das Gesicht des stellvertretenden Chefs der Sol Guard wirkte verändert, die Anspannung der letzten Stunden nagte an seiner britischen Gentleman-Gelassenheit.
»Guten Morgen, Lester. Wie Sie bereits erfahren haben dürften, ist der Inspektor der Company bei uns eingetroffen. Er hat Ihren Befehl annulliert, alle drei Ebenen abriegeln zu lassen. Nur Ebene 44 wird durch zusätzliche Einheiten gesperrt, der Sol-Red-Status des Falles bleibt aber bestehen.«
»Aus welchem Grund, Sir?«, erkundigte sich Lester und verspürte bereits jetzt eine Abneigung gegen jenen Inspektor. »S-R-S alleine reicht nicht aus. Die MindCell-Ortung der Zielperson ging verloren, und wenn sie sich bereits abgesetzt hat, können wir …«
»Ich weiß!«, unterbrach ihn der Senior-Chief of the Guard barsch. »Edwin Duquette ist der Meinung, dass wir mit der Abriegelung einer Ebene genug Chaos wegen eines Zivilisten verursachen und wir unsere Ressourcen besser disponieren sollten. Des Weiteren hat er angeordnet, Cabrallo sofort nach der Festnahme in eine Sonderverhörzelle bringen zu lassen. Niemand darf Kontakt zu dem Verdächtigen aufnehmen, bis er selbst mit ihm gesprochen und uns danach den Befehl für die Vernehmung erteilt hat.«
Lester schüttelte den Kopf – er konnte es nicht fassen. Die Sturheit der Company gehörte zur Tagesordnung, doch jetzt behinderte sie offen die Arbeit der Sol Guard.
»Mit Verlaub, Sir … das ist Bullshit! Antonio Cabrallo ist inzwischen der Hauptverdächtige bezüglich des Sicherheitsbruchs in Mine C und hat womöglich etwas mit der Toten zu tun. Wir können es uns nicht leisten, das Verhör des Mannes auf die lange Bank zu schieben. In wessen Interesse handelt der Inspektor eigentlich?«
Isherhill fuhr ihn an: »Befolgen Sie einfach meine Anordnungen, Lester! Auch ich habe mich im Augenblick nach den Befehlen von Duquette zu richten, denn er hat die Befugnisse. Mehr kann ich dazu nicht sagen, und ich wünsche keine Diskussionen über seine Vorgehensweise. Unsere Firma steht zurzeit durch Skyrock auf dem Prüfstand … wenn wir nach den Regeln spielen, sind wir Inspektor Duquette in zwei Tagen wieder los und behalten unsere Jobs. Denken Sie daran. Ende.«
Das Gesicht des Senior-Chiefs verschwand.
Lester zog die Stirn in Falten. Die Vorgänge in der Chefetage strotzten vor Unlogik. Wenn Cabrallo für Duquette so wichtig war und er ihn abgekapselt befragen wollte, wieso setzte der Inspektor nicht alles daran, ihn so schnell wie möglich zu arretieren? Welche Gründe gab es überhaupt für ein Sonderverhör? Und wieso war Isherhill der Befehlsgewalt eines Außenstehenden unterworfen? Oder vielmehr, aus welchen Gründen hielt sich sein Boss dermaßen strikt an unsinnige Weisungen? Das passte nicht zu ihm.
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