Dennoch ist sie da … die verdammt noch mal eindeutigste Sicherheitslücke, die man sich vorstellen kann! Und wegen unsinniger Geheimhaltungsparagraphen von Skyrock verschleppte sich mal wieder die Freigabe der Aufnahmen des Tatorts, der Zelle. Vieles hing im Moment also davon ab, was darauf zu sehen war.
Nachdem Coffee die neuen Informationen ausgewertet hatte, gab er seinem LiSi einige Gedankenbefehle und initiierte eine Recherchehilfe, die sich »Rewind-Time-Surveillance« nannte. Dazu übermittelte der Kontrollpunkt für MindCell-Signaturen im Gang seinem Visier die Anwesenheitsdaten sämtlicher Individuen der letzten drei Tage. Holografische Spiegelbilder, präzise aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt. Er wollte feststellen, ob den Kameras tatsächlich etwas Unsichtbares entgangen war.
Sein Visier leuchtete auf, und die geisterhaften 3D-Einspielungen von Wartungsarbeitern erschienen nacheinander mit Zeitcode und Namen versehen. Der Sol Guard-Mann verfolgte ihre Tätigkeiten, doch keiner der Techniker verweilte länger vor Ort oder betrat die Kammer, vor der er stand. Alles wirkte wie Routine. Kein Anhaltspunkt für die Aktivitäten eines Diebstahls.
Bis plötzlich eine neue Einspielung vom heutigen Tag hinzukam. Verwaschene und sehr schnelle Anwesenheitsdaten einer Person, die eine Fremdsignatur besaß und mit einem Fragezeichen gekennzeichnet war.
Die große Unbekannte! Obwohl dich die Kameras nicht erfasst haben, kann ich dich sehen. Was treibst du denn so?
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Person bewegte, verblüffte den Master-Officer. Er musste sich die Aufnahme erneut in Zeitlupe anschauen, um etwas zu erkennen und beobachtete, wie der Geist den Gang entlang schoss und die Zelle auf eine unerwartete Weise infiltrierte: Die Schleusentür öffnete sich von selbst, als würde der Eindringling bereits erwartet.
Coffees Blick fiel auf den Zeitindex. 04:22 Uhr – die Reinigungszelle befand sich bereits sieben Minuten außer Betrieb und im Alarmzustand. Was wiederum bedeutete, dass der Geist auf keinen Fall die Frau sein konnte, da ihre Leiche zu diesem Zeitpunkt schon in der Zelle lag.
Wer zum Teufel ist das?! Und wie ist jetzt die Frau da reingekommen?
Er verfolgte die Einspielung weiter, bis der Geist nach wenigen Sekunden die Reinigungszelle verließ und durch das Gangsystem verschwand. Ein auffälliger Energieschleier umspielte den Fremden, der vorher nicht zu sehen gewesen war.
Nachdenklich beendete Coffee den Vorgang. Seine Erkenntnisse wurden in die Infodatei des Falls aufgenommen und standen somit jedem seiner Kollegen zur Verfügung.
Die Personalien der Spukgestalt zu bestimmen, kam am heutigen Morgen einem Stresstest gleich. Er richtete eine Identifizierungsanfrage an Mona, aber wie vermutet kündigte ihm die KI eine Wartezeit aufgrund der Datenflut an, die ihre Quantenprozessoren momentan bearbeiteten. Die MindCell-Kontrollpunkte in den Minenabteilungen mussten in einem aufwändigen Verfahren synchronisiert und auf die Merkmale der Geist-Signatur geeicht werden. Ein Novum in der Überwachungsgeschichte des Computers.
Coffee atmete ruckartig ein und straffte sich – er brannte darauf, die Leiche zu sehen. Ein Kribbeln der Anspannung erfasste ihn, als er LD-U20-3 befahl, das Schott der Reinigungszelle zu öffnen.
Der Roboter trat vor und betätigte den Öffnungsmechanismus.
Das Knallen aufschnappender Metallbolzen ließ Cit zusammenzucken, der in den letzten Minuten erfreulicherweise keinen Mucks von sich gegeben hatte. Anschließend zischte die Tür und glitt in die Wand. Nachdem der Lockdown-Droide in die Schleuse gestapft war, öffnete er die innere Zellentür und trat entsprechend seiner Order, Tatorte nur abzusichern, beiseite.
Der Sol Guard-Mann durchquerte die Schleuse. Ein seltsam beißender Geruch schlug ihm entgegen, ein Geruch, der nicht hierher gehörte und der eine Empfindung bei ihm auslöste, die tief mit ihm verwurzelt aber aus einem anderen Leben zu stammen schien. Ist das … eiskalter Winter … oder … Ammoniak?
Coffees Nackenhärchen stellten sich auf. Er war kein abergläubischer Mensch, doch diesen Hauch des Übernatürlichen deutete er als schlechtes Omen. Alarmiert ging er weiter und betrat die Reinigungszelle.
Über den Boden lagen hunderte von blauen Kristallbrocken verstreut, die unter seinen Stiefeln knirschten, als ob er auf Scherben lief. Die spitzgezackten Mineralstücke besaßen eine Länge von einem halben Meter und einen Durchmesser zwischen zehn und vierzig Zentimetern. Bis zum hinteren Ende der Kammer reichte der Scherbenteppich, wo ihm sein Visier eine Besonderheit markierte. Eine Erhebung, teils unter dem Roh-Brymm verborgen und ebenso blau wie das Mineral selbst: die Frauenleiche.
Vorsichtig näherte er sich der Stelle und aktivierte seinen Scanner. Das Gerät überlagerte den Raum sogleich mit einem holografischen Gitternetz, um jedwede Eigentümlichkeit anzuzeigen. Doch bevor Coffee seine Aufmerksamkeit auch nur einem der Holo-Fähnchen widmen konnte, die an mehreren Punkten aufblinkten, knirschte es unvermittelt hinter seinem Rücken – und Cit stürmte an ihm vorbei.
Der Master-Officer verharrte eine volle Sekunde wie vom Blitz getroffen. Dann stieß er einen Schrei aus und hetzte seinem Begleiter nach, der wie ein Rindvieh über die Splitter trampelte. Er wollte nach dem Jungen greifen, blieb aber mit dem Fuß hängen und knallte der Länge nach hin. Sein Aufschlag verursachte einen Höllenlärm, der die Stille wie berstendes Glas zerriss und dutzende Kristallstücke aufwirbelte, die wiederum einen Splitterschauer erzeugten. Nur sein Schutzanzug bewahrte ihn vor schwerwiegenden Schnittverletzungen.
Coffee fragte sich, ob das gerade tatsächlich geschah oder er an Halluzinationen litt. Nachdem er aber verlässliche Analysewerte bezüglich der Verwüstung des Tatorts von seinem Holo-Visier abgelesen hatte, verwünschte er diesen Idioten. Mineralstaub rieselte von seinem LiSi herab, als sich wie ein Rachegott erhob.
Game over, Kid!
Cit hüpfte um die Tote herum. »Wow, was für eine Riesenscheiße!«, kreischte er und lachte irre. »Hey, Goff, hierher. Ich hab sie, ich hab sie! Schreib das in deinen Bericht rein, Bruder … ich hab sie gefunden. Cool, oder?! Fuck, was ’ne Schweinerei … uäh … mir wird kotzübel.«
Coffee machte mehrere schnelle Schritte und griff zu. Er zerrte Cit aus der Kammer, stieß ihn durch den Schottbereich und schleuderte ihn die Rampe hinauf.
Der Junge prallte mit Wucht gegen die Gangwand und ging zu Boden.
»JETZT REICHT’S!«, donnerte Coffee. »Was für ’ne Show ziehst du hier eigentlich ab, du kleiner Wichser?! Das ist kein Ex-R-Spielchen, sondern Realität! Und ich bin auch nicht dein verdammter Bruder.« Der Sol Guard-Mann ballte die Fäuste. »Gott, würde ich dich gerne zur Erde zurückprügeln!«
Cit rappelte sich hoch und tastete nach seiner Nase. Sie war geschwollen und blutete. Er sah seinen Teamführer mit verzerrter Miene auf sich zukommen, presste sich gegen die Wand und jammerte: »Au … shit, Mann. Warte, warte, warte … schon gut … hab’s ja kapiert! Schlag mich nich, okay?«
Ohne Umschweife nahm Coffee dem Jungen die Handfeuerwaffe ab, packte ihn am Kragen und erwiderte gefährlich leise: »Schlagen wäre schön, aber ich weiß etwas Besseres. Ich reiche bei Skyrock Beschwerde gegen dich ein, denn du gehörst in eine Arrestzelle. Sollen die sich mit deinem Onkel auseinandersetzen. Und noch was: Dein erster Einsatz endet hiermit. Du bleibst vor der Kammer und kannst von mir aus verhungern, verdursten oder noch mehr verblöden … ist mir scheißegal! Aber wehe, du rührst dich vom Fleck oder zerstörst weitere Beweise. Dann töte ich dich, Kleiner!«
Coffee gab dem Lockdown-Droiden im Gang den Befehl, Cit mit allen erforderlichen Maßnahmen daran zu hindern, die Reinigungszelle zu betreten, inklusive Waffengewalt. Gut möglich, dass er sich ein Ermittlungsverfahren einhandelte, doch diese Farce hatte auf der Stelle ein Ende.
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