Mia macht noch aus allen i-Punkten ein Herzchen, dann rollt sie das Bild ein und bindet eine rote Schleife herum.
Morgen wird sie es Timo in den Schuh stecken. Der wird Augen machen.
Am nächsten Tag wartet Mia, bis alle Kinder an ihren Plätzen sitzen. Dann hebt sie die Hand.
„Ja, Mia?“, fragt Frau Schmittlein.
„Darf ich nochmal aufs Klo?“
„Darf ich austreten, heißt das“, erklärt die Lehrerin.
Mia nickt ungeduldig. „Darf ich?“
Die Lehrerin wedelt mit der Hand.
„Mach schon, aber das nächste Mal erledigst du das, bevor die Schulglocke läutet.“
Mia steht auf und verlässt die Klasse. Aber sie geht nicht aufs Klo, sondern schnurstracks zu Timos Garderobenplatz. Schnell zieht sie die geschmückte Rolle aus ihrer Jacke und lässt sie in Timos Schuh verschwinden.
Vor Aufregung muss sie jetzt doch aufs Klo.
Während sie ihr Geschäft erledigt, malt sie sich aus, wie Timo die Rolle findet und sich über das schöne Bild freut. Ganz warm wird ihr ums Herz. Doch als sie die Toilette verlässt und an Timos Platz in der Garderobe vorbeikommt, erlebt sie eine böse Überraschung. Der Schuh, in dem eigentlich die Rolle stecken sollte, ist leer. Die Rolle ist verschwunden! Weg! In Luft aufgelöst!
Jemand muss sie gestohlen haben!
Mia fühlt, wie die Wut in ihr hochkocht.
Das war bestimmt diese Trixie! Die tut ja immer alles, damit Mia sich lausig fühlt! Dieses Miststück!
Mia ballt die Fäuste und stampft auf.
Na warte!
Wutentbrannt reißt sie die Klassenzimmertür auf und schmettert sie gegen die Wand. Alle Augen richten sich erschrocken auf sie.
„Ja, Mia …“, entfährt es der Lehrerin. Dann erkennt sie, wie wütend das Mädchen ist. „Was ist denn los?“
„Jemand hat das Bild gestohlen, das ich Timo in den Schuh gesteckt habe! Ein wunderschöner Weihnachtsbaum mit ganz vielen Kugeln. Alle blau, weil das doch Timos Lieblingsfarbe ist. Und ganz vielen Geschenken darunter. Und meine Mama hat in ihrer wunderschönsten Schrift …“
„Mia!“, unterbricht die Lehrerin Mias Anklage und zeigt auf Timo.
Der sitzt mit einem breiten Grinsen an seinem Platz und wedelt mit dem Bild hin und her.
Mia bleibt das Wort im Mund stecken. Timo hat sein Bild selbst gestohlen. Gefunden, sollte man da wohl besser sagen.
Ihre Wangen färben sich rosa.
„Ich hab mich schon gefragt, wer mein Wichtel ist“, sagt Timo und zwinkert ihr zu.
„Mia auf jeden Fall nicht. Die hat ja grade wieder bewiesen, dass sie einfach kein Geheimnis für sich behalten kann“, sagt Trixie mit einem giftigen Lächeln.
Mia streckt ihr die Zunge raus.
Timo tut so, als ob er nichts von alldem bemerken würde. „Ich finde das Bild toll“, sagt er, und ein bisschen leiser setzt er hinzu: „Besonders die Herzchen-i-Punkte.“
„Na also“, sagt die Lehrerin. „Ich bin sicher, das nächste Mal schafft es Mia auch, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Jetzt würde ich gern mit dem Unterricht beginnen, wenn ihr nichts dagegen habt.“
Murrend ziehen die Kinder ihre Hefte und Bücher aus den Schultaschen und machen sich gemeinsam mit der Lehrerin an die Verbesserung der Hausaufgabe.
Bevor auch Mia sich über ihr Heft beugt, wirft sie einen Blick zu Timo hinüber.
„Danke!“, formen seine Lippen eine lautlose Botschaft. Dann zwinkert er ihr zu.
Sie zwinkert zurück und auch sie beide vertiefen sich in die Matheübung.
Endlich läutet es zur großen Pause.
Mia schnauft erleichtert auf, lässt alles stehen und liegen und läuft in die Garderobe. Schnell in die Jacke geschlüpft, Mütze auf, Handschuhe an … Als Mia die Handschuhe aus ihrer Jackentasche ziehen will, stockt sie. Da sind nicht nur die Handschuhe drin, sondern noch etwas: ein rechteckiger, glatter Gegenstand.
Überrascht zieht sie ihn heraus und ihr wird ganz warm ums Herz. Es ist ein kleines Briefkuvert. Ein buntes Geschenk ist darauf gemalt und darunter steht GEHEIM.
„Ich hab’ etwas bekommen!“, schreit sie begeistert auf.
Alle Blicke gehen zu ihr.
„Uuuuh, ein Liebesbrief“, stichelt Inga.
Mia schaut sie böse an. „Überhaupt nicht! Der ist von einem Wichtel! Da steht GEHEIM drauf!“
„Na, dann wirst du uns bestimmt gleich erzählen, was drinsteht“, stellt Trixie trocken fest. „So gut, wie du Geheimnisse für dich behalten kannst.“
Ein weiterer böser Blick geht Richtung Trixie. Ganz egal, was in dem Brief steht, Mia wird ihr sicher nichts verraten! Sie steckt das Kuvert wieder in ihre Jackentasche. Wenn sie den Brief liest, will sie allein sein, sonst schaut ihr noch jemand über die Schulter – womöglich dieses Miststück Trixie!
Mia steht in einer stillen Ecke des Pausenhofs und betrachtet das Kärtchen, das in dem geheimnisvollen Umschlag gesteckt hat.
„Hab eine wunderschöne Wichtelzeit“, steht da mit Glitzerstiften geschrieben. Darunter ist ein Tannenzweig gemalt, an dem eine Christbaumkugel hängt. Doch nicht nur das! Von dem Kärtchen geht ein feiner Duft aus – nach Zimt. Mia schnuppert genießerisch und ihr Herz schlägt wie verrückt. Da hat sich jemand wirklich für sie bemüht. Wenn sie nur wüsste, wer das war!
Sie schaut die Schrift ganz genau an. Aber es ist keine, die sie kennt.
Ob der Brief von Timo kommt? Er hat doch versprochen, dass er sich auch für Mia eine Wichtelei einfallen lässt.
Mias Augen wandern über den Pausenhof, bis sie bei Timo ankommen. Er ist bei den Jungs, die Fußball spielen. Entschlossen geht sie zu ihm hinüber.
„Timo?“, ruft sie. Er schaut zu ihr herüber und grinst.
„Mia?“
„Timo!“, ruft beinahe gleichzeitig einer der anderen Jungs und schießt den Ball genau in seine Richtung. Mia zieht erschrocken die Luft ein. Autsch! Timo hat den Ball ins Gesicht bekommen.
Blut rinnt aus seiner Nase.
Mia läuft erschrocken hin.
„Das wollte ich nicht!“
Timo winkt ab. „Ist doch nicht deine Schuld!“
Mia ist sich da nicht so sicher. Hastig sucht sie nach einem Taschentuch. Als sie Timo das Päckchen mit Papiertaschentüchern hinhält, nickt er dankbar.
„Was wolltest du überhaupt?“
„Hast du mir das Briefchen in die Tasche gesteckt?“
„Welches Briefchen?“
Statt einer Antwort zieht Mia das Kuvert aus ihrer Jackentasche und hält es Timo so hin, dass er es sehen kann.
Timo grinst. „Ein Liebesbrief?“
Mia schnaubt. „Hast du oder hast du nicht?“
Timo lässt seine Augenbrauen ein paarmal hintereinander hochschnellen.
„Wenn ich das getan hätte, würde ich es dir ganz sicher nicht sagen.“
„Warum denn?“
Er zeigt mit seinem blutverschmierten Finger auf den Umschlag. „Da steht GEHEIM drauf.“
„Uff.“ Mia schnauft entnervt auf.
Timo grinst.
Willi kommt näher. Misstrauisch sieht er zwischen Timo und Mia hin und her. Sie lässt ganz schnell den Brief hinter dem Rücken verschwinden. Sie braucht Willi keinen Extra-Anlass zum Spott zu geben.
„Geht’s wieder?“, will er von Timo wissen.
Timo nickt. Er zwinkert Mia zu und geht wieder ins Spielfeld.
War er es nun oder war er es nicht?
Mia dreht das Briefchen hin und her, zieht das Kärtchen noch einmal heraus und geht im Kopf die Kinder der Klasse durch. Wer kommt außer Timo als Schreiber infrage?
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