„Nikolas Paulsen“, erwiderte Richling mit einem Schnalzen, während er seinen Brotstick herunterschluckte. „Das habe ich dir doch schon erklärt. Paulsen ist einer der größten Weinfachwirte hier im Schwabenland. Du weißt doch, wie unfassbar viele Weinliebhaber wir hier im Süden haben. Die werden die Story lieben! Vor allem, weil es über Paulsen nur extrem seltene Interviews gibt.“ Er griff nach dem nächsten Brotstängel. „Jedenfalls, Paulsen besitzt neben diversen Weinbergen hier auch welche in Australien und den USA. Das ist insofern interessant, weil er in allen drei Ländern dieselbe Rebsorte anbaut. Trotzdem schmeckt jeder Wein etwas anders – je nach Ursprungsland. Ich habe mich da mal aus Recherchegründen durchgetestet“, fügte er hinzu und Charlotte verkniff sich ein Grinsen. ‚Dass er dabei ernsthaft so tut, als hätte er sich dafür aufgeopfert‘, dachte sie. Richling fuhr fort: „Sein Verkaufsklassiker ist die Dreier-Flaschen-Kombination, so dass man dieselbe Sorte dreifach anders trinken kann. Das ist schon eine clevere Idee…. Und Paulsen war der Erste, der auf sowas gekommen ist. Und wohl auch genug Startkapital hatte, um sich all die Flächen zu kaufen und bewirtschaften zu lassen.“ Richling seufzte beinahe verträumt, als wäre es auch seine geheime Leidenschaft, Weine herzustellen. Dann wurde sein Tonfall ernst: „Und da die Auflage unserer Zeitung gerade richtig absackt, brauchen wir dringend ein neues Format, das uns aus dem Sumpf holt. Deswegen eben eine schöne Reportage, wie beim Spiegel.“ „Klar, wie Relotius 1“, spottete Sebastian. Ungerührt erwiderte Richling: „Ja, genau, wie Relotius. Nur halt wahr und nicht erfunden. Also Charlotte, gib dir Mühe am Montag. Es hat mich einiges an Überzeugung gekostet, dass du Paulsen eine Woche lang begleiten darfst.“
Charlotte seufzte. ‚Schön, dass die Hoffnung der Zeitung mal wieder auf mir lastet. Ich hab ja mit meinen Berichten über die letzten Morde nicht schon genug Beiträge geleistet.‘ Frustriert ließ sie den Blick über ihre Gäste schweifen. Dabei bemerkte sie, dass einige der stehenden Partygäste leicht gebückt dastanden. ‚Tja, Nachteil Dachwohnung‘, dachte Charlotte. Unvermittelt blitzte vor ihrem inneren Auge ein Bild auf: Kommissar Jankovich, der in einem alten Flanellhemd bei ihr in der leerstehenden Wohnung stand und sich beim Streichen den Kopf anstieß. Im selben Moment schüttelte sie leicht den Kopf. Sie wunderte sich, dass ihr ausgerechnet jetzt ihr letztes gemeinsames Treffen wieder einfiel.
‚Jankovich‘, dachte Charlotte wehmütig. ‚Ob ich den jemals wiedersehe?‘ „Wo bist du denn gerade, Schatz?“, riss Johannes sie aus ihren Gedanken und legte besitzergreifend den Arm um ihre Taille. Er hatte sich ebenfalls zu ihrer Runde dazugesellt. „Ach, nirgends“, sagte Charlotte schnell. Sie würde sich hüten, Johannes in ihre Gedanken einzuweihen. Er war ohnehin nicht gut auf Jankovich zu sprechen. Der Kommissar hatte ihren Freund im letzten Fall wie einen Verdächtigen behandelt. ‚Vielleicht hat ihm aber auch nicht gepasst, dass Johannes Interesse an mir hatte‘, dachte Charlotte und ein warmes Gefühl begleitete den Gedanken. Doch dann rief sie sich gleich wieder zur Vernunft. ‚Ach, vergiss es. Jetzt hör endlich auf, an ihn zu denken‘, schalt sich Charlotte. Es war Monate her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Und Jankovich war bestimmt nach wie vor mit seiner Ruth zusammen, die er übers Internet kennen gelernt hatte. ‚Und du hast Johannes, schon vergessen?‘, schaltete sich ihr Gewissen ein.
Als sie den Blick über ihre kleine Runde schweifen ließ, hatte sie den Eindruck, dass die Stimmung mit Johannes‘ Dazutreffen auf einmal kippte. Richling ließ desinteressiert den Blick schweifen und schien sich nach neuen Gesprächspartnern umzusehen. Sebastian und Chloe wandten sich einander zu und diskutierten darüber, wer von beiden nach Hause fahren würde, weil er weniger Maibowle intus hatte. Und Max war mit dem Tablett sofort wieder abgezogen. Charlotte spürte die Abneigung gegen ihren Freund. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass auch sie am liebsten nur noch wegwollte. Weg von der Lautstärke, den Gesprächen, der Party. Am liebsten wäre sie unten in Richlings Wohnung gegangen und hätte sich neben Dostojewski gelegt, der wahrscheinlich in seinem XXL-Hundekorb komatös vor sich hin schnarchte.
Die letzten Gäste gingen erst gegen 2 Uhr morgens. Völlig übermüdet räumten Charlotte und der harte Kern – Sanne, Max, Christoph und Johannes – noch das Notwendigste auf. Als Charlotte eine zerdrückte Erdbeere aus der Bowle auf ihrem weißen Teppich entdeckte, reichte es ihr endgültig. Sauer entfuhr ihr: „So ein Scheiß! Kann man das dann nicht gleich wegmachen? Jetzt krieg ich das doch nie wieder raus!“ „Hey, ist doch nicht so schlimm. Dann fahren wir einfach nächste Woche zum Ikea und ich kauf dir nen neuen“, versuchte Johannes zu schlichten. Doch Charlotte war frustriert über das versaute Ende der Feier, so dass sie überhaupt nicht darauf einging. Nachdem sich Sanne, Christoph und Max verabschiedet hatten, versuchte Johannes erneut, die Wogen zu glätten. Er zog sie in seine Arme. Widerwillig ließ Charlotte es geschehen. Er strich ihr über den Rücken und sagte: „Hey Schatz, das war doch ein toller Abend, findest du nicht? Meine Freunde fanden dich alle supernett, das hab ich ihnen bei der Verabschiedung noch aus den Nasen gekitzelt.“ Dabei wiegte er sie leicht hin und her, um sie aufzumuntern. Charlotte brummte, aber die Worte taten ihr gut. Sie spürte, wie Johannes an ihrer Wange ein Lächeln aufsetzte. „Und jetzt gehen wir schön ins Bettchen, was meinst du?“ Doch es war weniger als Frage gemeint, da er sich bereits von ihr löste und sie an der Hand ins Schlafzimmer ziehen wollte. Der Blick, mit dem er Charlotte dabei ansah, ließ sie ihre Hand zurückziehen. Etwas unwirsch erwiderte sie: „Ne, sorry, aber ich will heute Nacht wirklich meine Ruhe haben. Das war echt anstrengend heute.“ ‚Und auf Sex mit dir habe ich jetzt wirklich keine Lust‘, fügte sie in Gedanken hinzu. Ein harter Zug legte sich um Johannes‘ Mund, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Einen Augenblick lang blieb er wie angewurzelt stehen, dann schlug er die andere Richtung zur Türe hin ein und griff mit einer zackigen Bewegung nach seiner Jacke: „Na schön, wenn du meinst. Ich dachte, du wolltest den Abend gerne mit mir gemeinsam abschließen.“ Dann schlug er, obwohl es inzwischen 3 Uhr morgens war, die Tür hinter sich zu.
Ring, ring, ring – unerbittlich schrillte der Alarmton am Sonntagmorgen um 8:00 Uhr. Charlotte angelte halbblind nach dem Wecker, stellte ihn aus, und legte sich stöhnend einen Arm über die Augen. „Oh Mann“, sagte sie zu sich selbst. „Warum genau habe ich nochmal eingewilligt?“ Murrend erhob sie sich aus ihrem Bett und schlurfte barfüßig ins Bad. Als sie in den Spiegel blickte, schauten ihre braunen Augen zwischen verquollenen Lidern zurück. „Willkommen in den Dreißigern“, sagte sie lakonisch zu ihrem Spiegelbild. Um sich wach zu kriegen, drehte sie den Wasserhahn auf und wusch sich ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser. ‚Am besten gehe ich gleich joggen, wenn ich mit Dostojewski rausgehe, das macht mich wieder fit‘, überlegte sie in einem Anflug von Masochismus. Charlotte beendete ihre Katzenwäsche und setzte sich in ihrem Wohnzimmer auf den Teppich. Den Fleck hatte sie am Vorabend noch notdürftig herausgeputzt. Sie streckte ihre Beine aus und begann, sich leise ächzend zu dehnen. Anschließend schlüpfte sie in ihre Joggingklamotten. Sie band sich einen Pferdeschwanz und öffnete sämtliche Dachfenster, um den Muff des gestrigen Abends auszulüften. Beim Gedanken daran, wie sie und Johannes auseinandergegangen waren, sah sie wieder seinen vorwurfsvollen Blick vor sich, den er ihr zugeworfen hatte. Doch sie wollte jetzt nicht daran denken. Schnell schnappte sie sich ihr Handy und ihren Schlüsselbund und zog die Wohnungstüre hinter sich zu.
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