Im Alter von einunddreißig Jahren kam Colomans Leben zum Stillstand und er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er seinem Vater das Leben genommen hatte oder ob sein Vater ihm das Leben genommen hatte. Als er in den nächsten Tagen in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt wurde, konnte er für wenige Minuten, das Leben noch einmal sehen.
Es waren die Routine und die Monotonie, die das Leben in der Anstalt für ihn erträglich machten und die ihn jegliches Zeitgefühl verlieren ließen. In den folgenden Wochen entwickelte Coloman eine Art Zufriedenheit, bei der er sich manchmal sogar fragte, ob er endlich das Glück gefunden habe, denn hier wurden von ihm keine Leistungen verlangt, er musste sich nicht anstrengen, um zum Obergefangenen befördert zu werden, er wurde täglich als Gefangener anerkannt.
So empfand er es als Störung seines Glückes, als ihm eines Tages mitgeteilt wurde, dass er Besuch habe. Er konnte sich nicht vorstellen, wer ihn in dieser Anstalt noch besuchen könnte und er war vollkommen überrascht, als im Besuchsraum eine ihm völlig unbekannte Frau gegenüber saß.
Belinda war eine strahlend schöne Frau etwa im gleichen Alter wie Coloman, sie hatte langes blondes Haar, das nach hinten gekämmt und zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden war, sodass ihr rundes Gesicht mit den strahlend blauen Augen, der kleinen Stupsnase und den breiten roten Lippen wie ein Gemälde auf Coloman wirkte. Am linken Ohr trug sie einen schlichten runden goldenen Ohrring, der das kleine auf dem Hals tätowierte Herz einzurahmen schien.
Sie trug ein langes buntes Kleid, auf dem die Farbe Blau eindeutig dominierte und das bis zum Hals geschlossen war, aber über ihrem Busen eine kleine längliche Öffnung hatte, die ihre großen Brüste erahnen ließ, jedenfalls füllten ihre Brüste das Oberteil ihres Kleides so sehr aus, dass sich diese ovale Öffnung bei jeder Bewegung ein wenig weitete und der Sehnsucht einen größeren Raum gab.
Coloman verstand ihre ersten Worte nicht sofort, weil er von ihrer milden, sanften Stimme berauscht war, ihre strahlende Schönheit und ihre milde Stimme erzeugten bei ihm eine Gänsehaut und, es kam ihm vor, als würde sie ihn ganz sanft am ganzen Körper streicheln. Er hatte dieses Gefühl bisher noch nicht gekannt und sofort wollte er, dass es niemals aufhört. Er entschuldigte sich und bat sie, ihre letzten Worte noch einmal zu wiederholen.
„Ich bin Belinda, wahrscheinlich kannst du dich nicht an mich erinnern, wir sind zusammen in den Kindergarten und in die Grundschule gegangen. Auf dem Weg zur Schule sind wir uns morgens oft begegnet und dann gemeinsam bis zur Schule gegangen, aber ansonsten hatten wir nichts miteinander zu tun. Obwohl wir nah beieinander wohnten, haben wir uns nachmittags nie gesehen und nach der Grundschule habe ich dich dann ganz aus den Augen verloren. Später habe ich meinen Freunden dann immer erzählt, dass meine erste Liebe Coloman hieß, obwohl wir eigentlich gar nichts miteinander zu tun hatten und obwohl ich wusste, dass es sich natürlich nur um eine kindliche Schwärmerei für einen schönen Jungen handelte.
Als nächstes habe ich von dir aus der Zeitung erfahren. Ich konnte es gar nicht glauben, dass du deinen Vater getötet haben sollst. Jedenfalls habe ich mich sofort entschlossen, deinen Prozess zu verfolgen, bei jeder Verhandlung saß ich hinten im Gerichtssaal, aber ich glaube, du hast mich gar nicht bemerkt. Ich wollte dich auch in der Untersuchungshaft besuchen, aber ich bekam keine Besuchserlaubnis. Erst jetzt konnte ich dich endlich besuchen und ich freue mich, dich nach so langer Zeit wieder zu sehen.“
Tatsächlich konnte Coloman sich überhaupt nicht an Belinda erinnern, an den Kindergarten hatte er gar keine Erinnerung mehr und seine Erinnerung an die Grundschule beschränkte sich auf ganz wenige Ereignisse, vor allem konnte er sich an seine Lehrerin Fräulein Westheide erinnern, die nicht nur sehr schön war, sondern ihn, Coloman, auch so liebevoll behandelte wie er es sich von seiner Mutter gewünscht hätte. Als Coloman wegen einer Oberschenkelfraktur viele Wochen nicht zur Schule gehen konnte, sollte er das erste Schuljahr wiederholen, aber Fräulein Westheide sagte, dass dies nicht notwendig sei und sie opferte lange Zeit ihre Schulpausen, um Coloman den versäumten Stoff beizubringen.
Dies war für Coloman die wunderbarste Zeit in der Schule, weil er so dicht neben Fräulein Westheide sitzen durfte, noch heute überkam ihn ein wohliges Gefühl, wenn er sich an ihren Duft erinnerte. Manchmal, wenn sie ihm etwas zeigen wollte, was er falsch geschrieben hatte, legte sie auch ihren linken Arm um seine Schultern, um mit ihrer rechten Hand auf den Fehler genauer zeigen zu können. Sofort fühlte Coloman sich eingehüllt in eine wohlige Wärme, sodass er sich am liebsten an ihre Schulter geschmiegt hätte, um ganz in ihren Armen zu versinken. Als Coloman dann schließlich doch versetzt wurde, hörten diese ‚Nachhilfestunden‘ leider auf.
Am Ende des dritten Schuljahres wurde aus Fräulein Westheide Frau Freudenberg und sie verließ die Schule. Coloman war sehr traurig darüber und sein Schmerz wurde noch größer, als er im vierten Schuljahr von einer vergreisten alten Schachtel namens Frau Urban gequält wurde. Aus unerfindlichen Gründen konnte sie Coloman nicht leiden und ließ ihn dies auch sehr deutlich spüren. Als Coloman sie nach dem Ende des ersten Halbjahres bat, ihn für die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium anzumelden, hat sie laut gelacht: „Die schaffst du im Leben nicht!“ Nachdem er diese Prüfung trotz ihrer Weissagung bestanden hatte, ließ sie ihn endlich in Ruhe.
Das war schon so ziemlich alles, woran Coloman sich in seiner Grundschulzeit erinnern konnte. Was seine Mitschüler betraf, waren es insgesamt nur drei, an die er sich vage erinnern konnte. Da war der Junge, der mit seinen Eltern in einer Hütte tief im Wald lebte und der donnerstags immer fürchterlich nach Fisch stank, weil er vor dem Unterricht auf dem Wochenmarkt ausgeholfen hatte. Ein anderer hieß mit Nachnahmen ‚Klapp‘, der ihn einmal fürchterlich verprügelt hatte, nachdem Coloman gesungen hatte: „Eine Mühle steht am rauschenden Bach, klipp klapp, klipp klapp, klipp klapp.“
Und schließlich war da noch ein Mädchen, das offensichtlich der Liebling von Frau Urban war. Dieses Mädchen war in der Aufnahmeprüfung zur Realschule durchgefallen, was Coloman mit großer Freude erfüllte, weil er das Gefühl hatte, sich dadurch für die Worte von Frau Urban revanchiert zu haben. Belinda war in der Tat in seinen Erinnerungen überhaupt nicht vorhanden.
„Es tut mir Leid, Belinda, du hast tatsächlich Recht, ich kann mich nicht an dich erinnern.“
„Das wundert mich nicht, ich war immer sehr schüchtern und habe deshalb auch nie sehr viel geredet. Umso erstaunlicher ist es, dass ich Lehrerin geworden bin, aber das ist etwas anderes, da muss ich mich ja nicht wirklich mit Menschen unterhalten, sondern ich spiele eine Rolle, bei der ich meistens nur Vorträge halte.“
„Wow, das ist ja toll. Ich bin leider nur ein Versager, nach dem Abitur habe ich zunächst studiert, Theologie, Psychologie, Philosophie, Politikwissenschaften, alles nur ein paar Semester und dann abgebrochen. Danach habe ich eine Ausbildung als Krankenpfleger angefangen, die ich aber auch bereits nach einem halben Jahr wieder abgebrochen habe, weil ich das Gefühle hatte, dass man sich im Krankenhaus gar nicht für die Menschen interessierte, sondern nur dafür, die Arbeit so schnell wie möglich zu erledigen. Wenn ich mich zum Beispiel mit einer sterbenden Frau unterhielt, wurde ich anschließend ermahnt, nicht so lange in den Zimmern zu bleiben. Danach habe ich nur noch gelegentlich in verschiedenen Firmen gearbeitet. Entweder wurde mir gekündigt, weil ich bei der Arbeit zu viel redete oder ich habe gekündigt, weil das Klima in manchen Betrieben für mich einfach unerträglich war. Das war jetzt kurz gefasst das Leben eines Versagers und was willst du, Frau Lehrerin, von diesem Versager?“
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