Nur der Anfang , dachte Koros überhitzt.
All jene, die jemals über Koros gelacht, ihn verspottet oder nur missachtet oder übersehen hatten, würden eine Lektion erteilt bekommen. Sein Blick war der Welt entrückt. Sein Wille war eisern. Sein Denken vernarrt.
Mit dem Lächeln eines Wahnsinnigen verfolgte er das Geschehen auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht, die seine Armee am Vormittag erreicht hatte.
Wie genau die Dreizehn Häuser der Ahnenländer von seinem Einmarsch erfahren hatten, war ihm unbekannt. Koros wusste, dass die Bewohner der Ahnenländer großen Wert auf traditionelle Riten und Bräuche legten. Wahrscheinlich besaßen sie Wahrsager, Orakel oder etwas Ähnliches, die sie beratend unterstützen sollten. Es war ihm aber ohnehin, wie alles andere, mittlerweile gleich.
Der Nebel vom Morgen hatte sich weitestgehend verzogen, trotzdem war es ein mit Wolken verhangener und trüber Tag.
Die Entfernung war zu groß, um mit bloßem Auge Details zu erkennen. Sicherlich würden sämtliche Geschütze auf der anderen Seite aufgefahren, um dem Aggressor zu widerstehen. Koros sah ein paar größere hölzerne Geräte, die am gegenüberliegenden Rand aufgestellt worden waren. Er hielt sie für Katapulte.
Die Dreizehn Häuser waren jedoch schlecht vorbereitet. Dafür hatten sie einfach nicht genügend Zeit gehabt. Wer immer sie gewarnt hatte, wie immer sie es erfahren hatten, dass ihre Ruhe gestört werden würde, sie würden nicht vorbereitet sein. Nicht auf das, was Koros über Jahre hinweg in vielen einsamen Nächten ausgetüftelt hatte. Ein paar kleine Spielzeuge hatte er erfunden, wie die Druckluftbomben. Es waren keine gewöhnlichen Bomben. Schießpulver war extrem teuer und selten. Nein, die Bomben, die Koros entwickelt hatte, verursachten keine Explosion mit Feuer. Sie erzeugten eine gewaltige Druckwelle, die sich kreisförmig ausbreitete und ihre Ziele einfach wegpustete. Sie würden im bevorstehenden Kampf eine entscheidende Rolle spielen. Das Flüsternde Buch hatte ihm die Baupläne verraten.
Zu diesen kleinen Spielereien gesellte sich noch die Tatsache, dass er mit seiner Armee in der Überzahl war. Die Finsteren Ebenen waren für den Herrscher wie ein gedeckter Tisch, bei dem man nur zugreifen musste. Es gab also keinen Grund für ihn, beunruhigt zu sein. Das Einzige, das ihn nervös machte, war das Portal, das er auf der anderen Seite errichten wollte. Würde es nach so langer Zeit funktionieren?
Besaßen die Avioniumvorkommen in den Bergen noch genügend Energie, um das Portal zu öffnen?
Koros verharrte am Rand der Schlucht und blickte zur anderen Seite, während Wrax die Aufstellung der Armee koordinierte. Mit versteinerter Miene gab der Berater Anweisungen und drohte mit Bestrafungen, wenn sich die Gedankenwandler mit sich selbst beschäftigten, anstatt sich auf den bevorstehenden Kampf zu konzentrieren.
Er ließ die Katapulte in zweiter und dritter Reihe ausrichten und auf die richtige Entfernung eichen. Dreizehn waren es insgesamt »Für jedes der Dreizehn Häuser eines«, hatte Koros gesagt.
Die Gorgens sollten in letzter Reihe stehen.
Über den weiteren Verlauf und das Vorgehen während der Schlacht war Wrax bisher nicht informiert worden. Und das setzte ihm gehörig zu. Nicht genug damit, dass er in diesen Stunden gegen seinen eigenen inneren Widerstand ankämpfen musste, so war er jetzt auch noch gezwungen, blind Befehle seines Ersten entgegenzunehmen, ohne zu wissen, was dieser als Nächstes vorhatte.
Es war noch Zeit, erneut die Konfrontation zu suchen. Grimmig näherte sich Wrax seinem Ersten, der immer noch reglos an der Klippe stand und das Treiben auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete.
»Wie gedenkt Ihr weiter vorzugehen, Erster?«
»Holt mir den Alten!«
»Was?«
»Holt mir den alten Mann. Er soll herkommen. Ich möchte ihm etwas zeigen.«
Wütend leistete Wrax dem Befehl folge.
Dann frage ich eben nicht mehr! Soll er doch machen, was er will! Was kümmert es mich? Wenn er meint, alles zu wissen und mich dabei zu übergehen, dann soll er auch die Konsequenzen tragen, wenn es schiefläuft, schimpfte er lautlos.
Aber die Konsequenzen, die er würde tragen müssen, müsstest du auch tragen.
Pais Ismendahl, immer noch unter der geistigen Kontrolle von Koros stehend, erschien bei ihm.
»Sieh! Da drüben, alter Mann. Was siehst du?«
Pais’ Augen waren bei Weitem nicht so gut wie die von Koros. Viele Menschentrauben sah er auf der anderen Seite. Gesichter blieben auf diese Entfernung verborgen. Doch Eines konnte er sehen. Nicht mit seinen Augen, sondern mit den Augen des anderen Ichs, das von ihm Besitz ergriffen hatte.
Für viele Jahre hatte er dieses Gesicht nicht mehr gesehen. Und der echte Pais, der von dem fremden Ich kontrolliert wurde, hatte sich stets danach gesehnt, dieses Gesicht eines Tages wiederzusehen. In Frieden wiederzusehen. Die abgerissenen Brücken neu aufzubauen. Das war es, wonach sich der echte Pais sehnte.
Mit normalen menschlichen Augen war es unmöglich, das Gesicht aus der großen Entfernung zu erkennen, das Pais nun fixierte. Das fremde Ich in ihm ermöglichte es ihm dennoch, seinen Blick auf nur dieses eine Gesicht zu konzentrieren. Es ganz detailliert wahrzunehmen. Nichts anderes fokussierte das fremde Ich mehr. Nur noch dieses eine Gesicht. Es gehörte zu Pais’ älterem Bruder. Er war der Sprecher des Vierten Hauses Kellron. Lois war sein Name.
Anstatt sich an die schönen Augenblicke, die er mit Lois in seiner Jugend erleben durfte, zu entsinnen, listete der unsichtbare Besatzer in seinem Kopf all jene Begebenheiten auf, die den Hass auf seinen Bruder noch weiter anheizten.
Seine negativen Erinnerungen wurden zum Brennmaterial für seine lodernde Abscheu.
Pais nahm seine Armbrust, die an einem Lederband locker um seine Schulter geschlungen war, in Anschlag. Er zielte jedoch nicht auf Koros, so wie es sich der unterdrückte Teil in Pais wünschte. Pais zielte auf die andere Seite der Schlucht. Er zielte auf Lois. Und drückte ab. Der Herrscher schaute seiner Marionette gelassen und amüsiert zu.
Natürlich schaffte es der Bolzen nicht, die knapp hundert Meter über die Schlucht zu meistern. Dazu war die Armbrust zu klein. Der Bolzen versank auf halber Strecke in der Tiefe. Doch allein der Versuch machte die Absichten des anderen Pais deutlich. Rache und Tod.
Tief, ganz tief in einer winzigen dunklen Ecke in Pais war sein unterdrücktes Ich dazu verdammt, tatenlos alles mitanzusehen. Es war hilflos und allein.
Koros schaute dem Bolzen hinterher. »Fühlst du dich jetzt besser, alter Mann?«
»Nein«, sagte das fremde Ich scharf.
»Du wirst noch deine Gelegenheit bekommen. Übe dich in Geduld. Dann wird die Rache dein sein.«
Wrax kam schon wieder angeschlichen. Er wurde dem Herrscher immer lästiger. Seine bloße Anwesenheit machte ihn rasend.
»Was willst du?« Wieder das ‚du’.
Wrax schluckte seine Verbitterung runter. »Es ist alles bereit, Erster. Die Katapulte sind ausgerichtet, die Gorgens sind bereit, und die Borus sind an die Brückenkonstruktionen angespannt worden.«
»Gut.« Koros erklärte seinem Berater die nächsten Schritte, die er plante. Es war eigentlich ganz einfach. Nur fiel Wrax auf, dass sein Erster anscheinend überhaupt keine Vorkehrungen getroffen hatte für den Fall, dass etwas nicht nach seinem Plan laufen würde. Wrax runzelte die Stirn, entschloss sich aber dann, dieses Problem nicht anzusprechen. »Ich empfehle, dass wir sofort mit dem Angriff beginnen, Erster, bevor unser Gegner noch mehr Zeit hat, weitere Verstärkung zu sammeln. Nennenswerter Widerstand ist zwar nicht zu erwarten, dennoch sollten wir jetzt beginnen«, sagte er stattdessen.
Du wirst noch bereuen, dass du das gesagt hast, dachte Wrax erschrocken. Kannst es wohl gar nicht mehr abwarten, in die Schlacht zu ziehen? Kannst gar nicht schnell genug in dein eigenes Verderben rennen, wie?
Читать дальше