Zu seinem Gegenüber sagte Terra unschuldig: »Ich habe ein großartiges Gefühl. Hier werden revolutionäre Maßnahmen ergriffen.« – »Wie lang sind Sie schon in Berlin?« fragte Herr Grünfeld. – »Einen Tag«, gestand Terra. – »Ich schon zwanzig Jahre, aber Weltwende ist bloß Mittwochs.« Nach dieser Zurechtweisung blieb es Terra nur noch übrig, beim Salamander nachzuklappen, und er war für die Nachbarschaft erledigt. Der Salamander ward kommandiert von einem Mitglied, das in einer goldbraunen Samtjacke an der oberen Schmalseite des Tisches saß. Terra unternahm es für sich, die herkömmlichen Formen der Tafelrunde mit ihren gewagten Zielen in Einklang zu bringen. Es gelang ihm nicht, er fand sich damit ab, als geduldeter Adept in unterer Stellung den Ereignissen beizuwohnen. Hummel las sein Stück vor.
Neben der goldbraunen Samtjacke saß er in seinem wollenen Gehrock nach Professor Jäger und las mit großem Aufwand von Dialekt und von Entrüstung. Den Dialekt sprachen in dem Stück die kleinen Leute, die Entrüstung des Dichters erregten die Reichen. Sie beuteten die Armen nicht nur von Ferne aus, sie saßen ihnen persönlich wie Tiger im Genick, töteten die Söhne durch Hunger und Arbeit, die Töchter durch ihre Lüste. Kein Zweifel, daß dies stark, düster und gerade kraft des Äußersten an Düsterkeit verheißungsvoll für den kommenden Tag war. Stellen gab es, an denen Terra rückhaltlos zu Hummel stand. So konnte man aussehen, so ungepflegt daherreden und dennoch stolzester Menschenwille sein! In solchen Augenblicken erschienen alle ringsum ihm neu beleuchtet, als hochherzige Wesen, die das Gute wollten: ein seltenes Geschlecht, schließ Dich ihm an! Der lesende Dichter, der wüste Bart entstellte nur leider die fein und sicher arbeitenden Züge seines Gesichtes, verflachte sogar den scharfen Blick: aber welch' eine Spannung der mageren Schultern unter seinem albernen Rock!
Zum Unglück erschienen nun wieder die kleinen Leute, und in dem Mitleid, das sie begleitete, ob es Natur oder Vorsatz war, verriet sich diese Art, die Welt von unten anzusehen, die Terra beleidigte und abstieß. Hier faßte er den Entschluß, seinen eigenen geteilten Kinnbart zu entfernen, damit keine Ähnlichkeit aufkomme. Er hörte weiter zu, um der weiblichen Hauptrolle willen. Anfangs war sie eine Lehrerin, was ihm nicht günstig schien, und verband das reiche Haus, wo sie geliebt wurde, mit dem armen, dem sie entstammte. Allmählich aber ward aus der Lehrerin eine Person mit Haaren auf den Zähnen, die eine fürstliche Villa bewohnte und das Haus der Reichen, samt ihnen selbst, so gut wie vollständig verschlang. »Nicht übel für Lea«, sagte er sich. »Nach ihrem Frankfurter Erfolg ist sie reif für Berlin. Aber hat diese ganze Gesellschaft Bedeutung genug, daß meine Schwester sich ihretwegen bemüht? Vielleicht war ihre sogenannte Bewegung nur ein Schwindel der Generalagentur für das gesamte Leben.« Hummel war fertig, ihm zu Ehren wurde ein Salamander gerieben und dann kam die Kritik. Scharfgeistig, wie alle hier waren, hatte jeder etwas auszusetzen. Grünfeld brachte juristische Einwände vor, die das Ganze untergruben, die Samtjacke erklärte glucksend, daß sie bei der im Stück bestehenden Promiskuität zwischen den Beziehungen der Geschlechter nicht mehr hindurchfinde. Eine unvorhergesehene Pause ward von Terra unterbrochen. »Ich möchte als blutiger Laie und außerdem erst seit heute in Berlin, mit aller gebotenen Bescheidenheit mir eine kurze Frage erlauben.« Die befremdende Einleitung bewirkte völlige Stille. Er sagte von unten, es konnte anzüglich oder schüchtern sein: »Werden solche Stücke geschrieben, weil es eine soziale Frage gibt, oder kommt die soziale Frage von solchen Stücken?« Wie er es gehofft hatte, fanden sich mehrere, die das zweite bejahten. Der Dichter, gereizt durch die sachverständigen Ausstellungen, setzte sich mit seinem Bierglas zu dem wohltuenden Laien, der ihn so ernst nahm. Terra äußerte, daß die Figur der Lehrerin ihn besonders interessiere. »Sie finden,« schob der Dichter ihm unter, »daß die Rache der Ausgebeuteten sich in ihr verkörpert.« Terra erwiderte, die Rache der Ausgebeuteten scheine ihm Nebensache, aber solchen Damen sei er schon begegnet und wenigstens darin nicht ganz Laie. »Wir müssen die Sache zu Ende besprechen. Gehen Sie mit?« schlug Hummel vor. Terra begriff, daß jener bis in alle Ewigkeit über sein Stück zu reden gedenke; nur die Rolle für seine Schwester bewog ihn, aufzustehen.
Zu dreien, mit dem unvermeidlichen Kurschmied, gingen sie, ohne sich über ein Ziel zu einigen, immer redend durch die Straßen. Ihre gestikulierenden Gestalten spiegelten sich im nassen Asphalt. Man sah ihnen nach. Kurschmied, angeregt bis zur Schwärmerei, schwur, das Stück werde ein Welterfolg sein, aber nur mit einer einzigen Hauptdarstellerin! »Unmöglich!« rief Terra. »Meine Schwester kommt nicht in Frage, und wenn Sie Gold reden. Meine Schwester ist zu herb, zu sehr Natur und Volk, sie berauscht nicht.« Kurschmied, der aufsteigen wollte, bekam einen Stoß. Der Dichter frohlockte. »Das will ich gerade, und finde es nicht! Um Gotteswillen keinen Rausch, keine ruchlose Schönheit! Was für Haare hat ihre Schwester?« – »Sie ergraut schon«, sagte Terra.
Vor einem Bouillonkeller hielt Terra an. »Ich habe nur noch wenig Geld«, gestand er zynisch. »Wie steht es bei den Herren?« Aber Hummel, der von Rechts wegen hier zu Hause sein mußte, machte einen Bogen, er esse nichts. Den nächsten Versuch machte Terra vor dem glänzenden Eingang des Wintergartens, und Hummel war bereit. Die Vorstellung mußte noch eine Weile dauern; wie sie aber an der Kasse standen, kamen schon Fortgehende heraus. Terra riß sich herum, bot die Brust dar, und die Lippen krampfig geöffnet, zuckte er die Hand zum Hut. Er kam nicht so weit, ihn abzunehmen, die Gräfin war vorüber und hatte den Blick nicht hergewendet. Dennoch wußte er, daß sie ihn von weither betrachtet habe, noch bevor er sie erkannte. Da war sie blitzschnell zu ihrem Begleiter abgeglitten, und wer begleitete sie? Der Bismarck Tolleben. Ihr Bruder, schlank und schläfrig, folgte ihr neben einem blau und schwefelgelben Leutnant. Terra spähte mit einer Bewegung des Halses wie ein Tier, nach seinen Freunden, ob sie etwas bemerkt hatten, aber sie verhandelten über die Plätze. Sein Blut nahm einen Anlauf: hinterdrein, und sie gestellt, das Pack, das ihn verachten wollte, samt ihr! Auf offener Straße sie an ihre nächtlichen Beziehungen erinnert, den Tolleben aber vor das Maul geschlagen mit dem bloßen Namen der Frau von drüben! Terra hatte Schaum auf den Lippen, er hielt sich an dem Schalter fest. Seine Freunde ließen ihm den Vortritt, damit er bezahle, da sah er, wer sie waren, seine rechtmäßigen Gefährten und er selbst, mit seinem Hohenzollernmantel. Er schluckte hinunter und sagte, bleich, aber überlegen munter: »Wir sollten uns hier die letzten faulen Plätze anhängen lassen? Was kostet Berlin?« Womit er, ihnen voran, aufbrach.
Dies sei auf andere Art in Ordnung zu bringen, erkannte Terra, indes er das laute Gespräch fortsetzte. Jener Hochmut sollte ihn kennen lernen. »Ich mache mich anheischig, ihm eines Tages so zu begegnen, daß kein Mensch mich noch einmal übersehen kann, – und wär' es in zehn Jahren!« Aber es mußte sogleich sein, ohne Verzug und sobald nur der Tag kam. Er fühlte, die Nacht werde schlaflos sein. Er hatte, da sein Zweck bei ihm erreicht war, diesen Stückeverfasser seinem Schicksal überlassen wollen. Jetzt mochte geschwatzt werden bis an den hellen Morgen.
Er führte die beiden in eine gut bürgerliche Wirtschaft, wo er Zigaretten verschlang, indes sie aßen. Hummel aß gierig, aber mit dem Anspruch auf gute Erziehung; drüben glaubte er Bekannte zu sehen. Erst als sie es nicht waren, ließ er sich gehen. »Sie halten mich frei und haben es wohl selbst nicht reichlich«, sagte er zu Terra stöhnend, die übereilte Mahlzeit beengte ihn. »Nun sehen Sie dort draußen die gewissenlosen Genießer!« stöhnte er; denn den Theatern entströmte ein gut gekleidetes Publikum. Terra erwiderte, ob die Leute ein Gewissen hätten, sei nur ihre eigene Sache. – »Wie? Sie fühlen nicht sozial?« – »Eine Gegenfrage wollen Sie auf keinen Fall wie unverschämte Zudringlichkeit, sondern einzig und allein als den Ausdruck meines lebhaften Wunsches nach einer sachlichen Aussprache auffassen. Wie lange schreiben Sie schon ohne nennenswerten Erfolg?« Sichtlich vor seinen überfüllten Magen gestoßen, klappte Hummel zusammen. »Ich bin nicht älter als Sie«, – der Dichter hatte blaues Feuer in den Augen. »Nur habe ich mehr gehungert.«
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