»Es hängt noch immer mit mir zusammen«, sagte die Mutter. »So oft ich mich aufrege, ist es außer sich.«
»Noch immer? Wie alt ist es?«
»Zweieinviertel Jahre ist es alt, mein Freund«, sagte sie und sah ihn an. Sein Blick, der den ihren aushielt, kam ins Zittern, ein Schrecken durchlief ihn, er wußte nicht, ob peinlich oder süß. Er lachte auf. »Und drei Jahre ist unsere nähere Bekanntschaft her. Sie haben die vorgeschriebene Zeit streng eingehalten, Lili.«
Sie sagte sachlich: »Es ist ein Knabe. Er heißt Klaus, wie es sich gehört. Gib dem Herrn die Hand, mein Klaus!«
Terra beugte sich hinab, um die kleine Hand zu fassen. Seine dunklen Augen forschten mit brennendem Ernst in den braunen des Kindes, auf seinem blonden Gesicht. Er hielt sich grade noch zurück, um nicht den Kopf zu schütteln. Schließlich konnte es sogar wahr sein. Eine Tatsache, nicht unglaubwürdiger als andere. Nicht schwerer zu befolgen diese, als jede Konvention ... Das eingeschüchterte Kind entzog sich dem ausdauernden Herrn. Es weinte eine Minute lang, dann durcheilte es wieder mit Freudengeschrei das Zimmer.
»Ich habe Ihnen meinen aufrichtigen, tiefstgefühlten Dank abzustatten«, äußerte Terra, er küßte der Frau von drüben mit erlesener Höflichkeit die reich beringten Finger.
»Es ist gern geschehen«, sagte sie und goß ihm Likör ein.
»Wenn ich mir nur die einzige bescheidene Frage erlauben dürfte: warum trifft gerade mich dies unverdiente Glück?«
»Es war nicht so unverdient«, erwiderte sie achselzuckend. »Sie wollten das Kind durchaus.«
»Und vor mir –« begann er rachsüchtig.
»Vor Ihnen, wenn Sie dies denn erwähnt wünschen, hatte wohl noch keiner es durchaus gewollt.« Worauf er, stärker atmend, vor sich hinsah. Versöhnlich fragte sie:
»Was fangen wir jetzt miteinander an?« Er schlug munter vor: »Das Einfachste wäre es, gute Freunde zu bleiben.« »Wenn ich also Ihre gute Freundin bin: wie steht es mit Ihren Mitteln? Ich darf Sie nicht im Stich lassen. Sie waren Reklamechef in einer Generalagentur, die morgen schwerlich noch funktioniert.« Er wollte kurzerhand jede Besorgnis ablehnen. Aber sie: »Mir müssen Sie nicht erst beibringen, wie das Leben dreckig ist. Damals waren Sie es, der sein Geld für mich hergab.« Das sei etwas anderes, meinte er. »Sie sind auch der Vater meines Kindes.« Das lasse er sich grundsätzlich nicht bezahlen. »Aber Sie haben mich vor dem dummen Skandal bewahrt.« Hierauf lachte er, und sie mit ihm. Dies schien eine völlige Entspannung zu bewirken, weich brach sie in Tränen aus. Da sie aufstand, folgte er ihr. Sie gingen nochmals durch das Zimmer, das Kind stand und beobachtete mit spitzen Augen jeden ihrer Schritte. Er stützte sie im Gehen; die Hüfte der Frau von drüben glitt wieder über seine, ihre Wange neigte sich schmelzend seiner Schulter, ihr Atem traf ihn. Er sagte mit scharfer Stimme: »Ein so großes Unglück, scheint mir, ist eben nicht geschehen.«
»Ach! Lieber Freund, Sie begreifen noch nicht, was geschehen ist.« Schluchzend: »Herr von Tolleben geht mir durch die Lappen.«
»Der Bismarck? Lassen Sie ihn laufen! Er weiß vor Schulden nicht ein noch aus.«
»Aber seine Stellung! Die Reklame! Claudius, helfen Sie mir!«
»Der Mensch ist ein Unglück«, überlegte Terra. »Er hat keine Sinne. Was fesselte ihn an Sie, verehrte Freundin? Die allerhöchste Oper. Das Kunstwerk muß somit in Ihrer Gewalt sein. Mit dem Tode des Direktors ist es an Sie übergegangen. Vielmehr, der Verblichene hat es in die Ewigkeit mitnehmen wollen, er steckte es in Brand. Sie zogen es, mit Gefahr für Ihre schönen Hände, aus den Flammen.«
»So viel Phantasie!« sagte die Frau von drüben und umarmte ihn.
»Wenn er daraufhin nicht die lächerlichste Rolle bei Ihnen spielt, will ich es selbst tun.«
»Aber Sie müssen ihm einen Wink geben.«
»Die Gelegenheit würde sich finden«, sagte er – und schloß fest die Lippen. Denn er erinnerte sich der Gräfin und bemerkte auch, daß er ihrer, um derenwillen er durch diesen tatenreichen Tag gegangen war, kein einziges Mal heute gedacht hatte. Sie war ihm entrückt durch diesen Tag, als seien es hundert. Nahe an ihm stand die Frau von drüben und sah ihn erwartungsvoll an. In diesem Augenblick lief auch das Kind herbei und schmiegte sich zum erstenmal an seine Knie. Dies war ein besonderes Gefühl. Er setzte sich, um das Kind zu streicheln und weil er sich plötzlich erschöpft fand. Die Mutter sagte:
»Ihr Studium haben Sie wohl unterbrochen, aber natürlich nicht aufgegeben, ein Mann wie Sie! Wer Sie unterstützt, bis Sie fertig sind, hat sein Geld gut angelegt, und nun gar ich ... Wer weiß«, schloß sie träumend, einer ihrer Arme hing von rückwärts über seine Schulter.
Er verstand: vielleicht heiraten Sie mich, ich werde bald reif dafür sein, und machen Ihre Karriere mit Hilfe meiner Ersparnisse und meiner Verbindungen. Ihm ward ein Pakt angeboten, der den bürgerlichen Anstand verletzte und eine Demütigung war. Nicht die entfernteste Möglichkeit bestand, ihn einzugehen, – aber darum war er noch immer gewollt von seinem Dasein, denn es hatte hierher geführt. Demütige Dich! Habe den Mut zu mir! sagte sein Dasein. Der Arm der Frau von drüben hing noch immer von seiner Schulter. Er griff nach der Hand, er näherte ihr ruckweise sein Gesicht; plötzlich drückte er, mit wilder Hingabe, zuerst die feuchte Stirn darauf, dann seine bitteren Lippen.
Kurschmied und der Dichter Hummel standen noch immer im Haustor. »Erschütternde Szenen haben sich abgespielt«, sagte der Dichter. »Die soziale Frage ist das dankbarste aller Probleme.«
»Wenigstens haben Sie sich schadlos gehalten«, stellte Terra fest. Dies galt freilich nur im Hinblick auf das Geistige. Sowohl Hummel wie Kurschmied sahen für die Sitzung der »Weltwende«, wohin sie sich begaben, eine wahre Katastrophenstimmung voraus. Terra ward aufgefordert mitzukommen. Ihm war nicht wohl dabei, er war sich bewußt, zum Ausbruch der Katastrophe das Seine getan zu haben. Aber Kurschmied hatte Terra dem Dichter als wertvollen Bestandteil des Publikums genannt, für das Drama, das Hummel den Ausschußmitgliedern der »Weltwende« heute Abend vorzulesen dachte. Im Menschengewühl gelang es Kurschmied, mit Terra einige Schritte hinter Hummel zurückzubleiben. »Sie haben heute furchtbar gehaust«, sagte er mit einer Art Andacht. »Der Direktor wird nicht der einzige Tote bleiben.« – »Ich bin selbst wie vor den Kopf geschlagen«, gestand Terra. Kurschmied aber: »Ich flehe Sie an, vor mir keine Maske! Ihr unstillbares sittliches Bedürfnis schafft Katastrophen, wohin Ihr Fuß tritt. Aber sollte es auch mich selbst hinstrecken, ich bleibe der Ihre!« – mit glühendem Händedruck.
Die Vereinigung »Weltwende« tagte im »Askanischen Hof.« Ein kahles Separatzimmer enthielt an einem langen Kneiptisch die vollzählige Gilde der Modernen, Männer bis zu vierzig Jahren. Die Älteren waren Rechtsanwälte, sie gaben den geistigen Verschwörungen abseits lebender Literaten den bürgerlichen Rückhalt. Leider hatten auch sie in die Generalagentur für das gesamte Leben ein Vertrauen gesetzt, das verhängnisvoll enttäuscht worden war. Jetzt freilich gestanden sie, dem Zauber nie getraut zu haben; sie hätten nur der Vorliebe ihrer naiveren Genossen für das sozial Angehauchte, so sagten sie, nachgegeben. »Grünfeld soll nicht mithauchen«, erwiderte jemand dem, der Terra gegenüber saß und merklich am Magen litt. Der Ton war hier so scharf, wie die Geister. Es ging anspruchsvoll zu, erfordert wurden Witz, Entschlossenheit, die zeitgemäße Kunstdoktrin und eine soziale Gesinnung. Hinter der Spottsucht des Ausdrucks herrschte ein Glaube, bei dem einen echt, beim andern falsch, aber er herrschte, das Gespräch war durchtränkt mit ihm. Nichts geringeres stand mit Sicherheit bevor, als die Lösung der sozialen Frage. Im Zusammenhang damit war ein Jahrtausend neuen Geistes soeben angebrochen. So konnte es der Vereinigung »Weltwende« nicht fehlen. Was sie aber veranstaltete, waren Aufführungen in entlegenen Vorstadttheatern, neue Mittel mußten dafür herbei, Mitwelt und Zukunft geboten es.
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