Während Olga Teller mit verkrusteten Essensresten einweicht, suche ich in meinem Kopf nach der Schublade mit der Aufschrift 1988. Vor einigen Jahren habe ich angefangen diese Schubladen in meinem Kopf anzulegen, um Erinnerungen und Bilder, welche noch nicht verloren gegangen waren, festzuhalten. Einige dieser Schubladen sind leer, vollkommen leer, aber in der aus dem Jahr 1988 finde ich etwas. Finde ich jemanden: Michael. Der Junge war ein Träumer, hat in seiner Jugend zu viel Jack London gelesen und bekam irgendwann die fixe Idee, am härtesten Hundeschlittenrennen der Welt von Anchorage nach Nome teilzunehmen. Als er im Dezember 1987 nach Alaska flog, war er gerade einundzwanzig Jahre alt. Ein paar Monate später wurde er für tot erklärt, obwohl man seine Leiche nie gefunden hat. Den Schlitten und das Hundegespann schon, aber nicht ihn. Die Suchtrupps hatten nach zehn Tagen und starkem Schneefall aufgegeben. Seine Mutter gab mir die Schuld, so wie sie es immer tat, weil ich den Jungen angeblich zu hart angepackt hatte.
„Cherr Plonker?“
„Ja, Olga?“ Ich habe es aufgegeben von ihr die richtige Aussprache des Buchstaben H zu fordern. Einige Sachen lernen diese Russen nie.
„Teller hat kaputt.“ Sie hält mir einen Teller vors Gesicht. Er hat einen Sprung. Ich spüre, wie Zorn in mir aufwallt.
„Verdammt, Olga, können Sie nicht aufpassen? Ich werde das von Ihrem Lohn abziehen!“ Geburtstag hin oder her, Ordnung muss sein, weshalb sonst, wenn nicht wegen seines korrekten Verhaltens, ist der Deutsche in der ganzen Welt so geachtet.
„Nicht ich, nicht ich!“, stammelt Olga.
„Ach so, dann war’s wohl der Weihnachtsmann?“ Olgas Gesichtsfarbe verfärbt sich dunkel. Ich halte das für ein Schuldeingeständnis und werde milder: „Hören Sie, mein liebes Mädchen, ich weiß sehr wohl, dass Sie heute Geburtstag haben, deshalb schlage ich Ihnen vor, dass Sie Ihre Hausarbeit jetzt wie immer gewissenhaft erledigen und danach, als Wiedergutmachung, das Treppenhaus reinigen, das gesamte. Wir wollen dann die Sache mit dem Teller vergessen.“ Meine Stimme hat eine gutturale Tonlage erreicht.
„Und Lohn?“, fragt sie.
„Lohn gibt es heute keinen.“
Erstaunt sehe ich, wie Olga ihre Schürze wutentbrannt auf den Küchenboden schleudert und in einen Wortschwall einer mir unbekannten, barbarischen Sprache ausbricht. So kenne ich Olga gar nicht. Ich bin entsetzt. Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit, denke ich, und klammere mich fester an meinen Stock, denn meinen trüben Augen ist nicht entgangen, dass sie in einer ihrer fuchtelnden Hände ein Kartoffelschälmesser hält, welches sie gerade in Begriff war abzutrocknen.
„Ich weiß ja nicht, wie das in Russland ist…“, beginne ich.
„Ich nicht Russe, ich Nochtscho, Nochtscho!“, sagt sie heftig und schlägt sich dabei mit der messerlosen Hand auf die Brust, während die Klinge des kleinen, aber scharfen Messers in den Strahlen der durch das Fenster hereinfallenden Mittagssonne aufblitzt. Möglicherweise sterbe ich doch nicht auf der verfluchten Rampe, geht es mir durch den Kopf, und überrascht bemerke ich, dass ein Gefühl, das ich schon gar nicht mehr kannte, am Knochengerüst meines Altmännerkörpers entlangtastet: Angst.
„Ich hasse Russe! Böse Mensch, sehr böse!“ In der Sache kann ich nicht nachgeben, aber jetzt sehe ich eine Möglichkeit, mich mit Olga zu verbünden: „Recht haben Sie, Olga, sehr böse Menschen sind das! Wie die im Krieg über unser deutsches Vaterland hergefallen sind und unschuldige Menschen von ihrem Hab und Gut vertrieben haben, eine Schande ist das! Und dieser Stalin war ein ganz gemeiner, hinterhältiger Schurke, dagegen war Hitler ja ein Engel! Im Übrigen hat unser Führer…“
Plötzlich fängt Olga an zu weinen. Sie wirft das Messer in die Spüle und eilt in den Flur. „Wo wollen Sie denn hin? Laufen Sie gefälligst nicht einfach weg, wenn ich mit Ihnen rede!“ Die Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss. Und wer macht nun die Wohnung sauber?
Inzwischen ist es später Nachmittag. Nach Olgas Verschwinden habe ich eine Dose Erbsensuppe im Wasserbad erhitzt und dazu etwas Graubrot gegessen. Ich nahm mir vor gegen Abend bei der Telefonnummer durchzurufen, die Olga an ihrem ersten Arbeitstag hinterlegt hatte. So einfach sollte sie mir nicht davonkommen, Verpflichtungen müssen schließlich eingehalten werden!
Ich sitze am Esszimmertisch, der BROCKHAUS liegt vor mir. Ich lese: Grosny, Hauptstadt von Tschetschenien, im nördlichen Vorland des Großen Kaukasus; etwa 50.000 Einwohner; durch Luftangriffe und zwei russische Militärinvasionen sehr stark zerstört. Ich blättere zum Buchstaben T: Tschetschenien, Republik innerhalb Russlands, 781.000 Ew. - Seit dem 18.Jh. leisteten die muslimischen Tschetschenen Widerstand gegen die russische Kolonialpolitik; Unterdrückung des Islam; 1944 Deportation der Tschetschenen nach Zentralasien. Nach einseitiger Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens 1994 bis 1996 opferreiche militärische Auseinandersetzungen mit Russland.
Ich klappe die Bücher langsam zu und lege die Lesebrille auf den Tisch. Unfassbar. Seit Monaten geht bei mir eine Tschetschenin ein und aus, und ich weiß nichts davon. Ich streiche mit beiden Händen über die kümmerlichen Reste meines eisgrauen Haares und schlurfe zum Telefon. Die Nummer von Johannes ist eine der wenigen in meinem Adressbuch, die ich noch nicht durchgestrichen oder mit dem Vermerk ‚verstorben‘ versehen habe.
„Hallo Johannes, hier ist Richard.“
„Richard, alter Knabe, wie geht es dir, isst du immer noch Erbsensuppe aus der Dose?“
„Abgesehen davon, dass ich kaum noch laufen kann und heute beinahe umgebracht wurde, geht es mir gut. Und du, mal wieder Reis gefuttert?“ Johannes ist fünfundsiebzig und mit einer zwanzig Jahre jüngeren Vietnamesin verheiratet.
„Jeden Tag, jeden Tag, haha! Hat aber scheinbar nicht geklappt, das mit dem Umbringen, oder? Mich wundert sowieso, dass es noch keiner getan hat!“ Sein Gelächter geht in einen Hustenanfall über und ich nutze die Gelegenheit, um zur Sache zu kommen: „Sag mal, du alter Hühnerdieb, du warst es doch, der mir Olga B. als Haushaltshilfe empfohlen hat, nicht wahr?“
„Ja, eine ganz nette und zuverlässige Frau. Wieso fragst du, bist du nicht zufrieden mit ihr?“
„Zufrieden? Na, denn hör dir mal an was heute passiert ist.“ Und dann erzähle ich Johannes alles, nur unterbrochen von einem gelegentlichen aha oder ach was! und ich beende meine detailgetreue Nacherzählung der Ereignisse mit der Frage: „Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie Angehörige eines aufrührerischen, muslimischen Volkes ist?“ Und in Erwartung von so etwas wie entrüsteter Zustimmung beuge ich mich leicht nach vorne.
„Richard?“
„Ja, Johannes?“
„Du bist ein Trottel.“
Für eine kurze Ewigkeit ist nichts weiter als das röchelnde, asthmatische Atmen zweier alter Männer zu hören. Ich überlege, ob ich die Verbindung unterbrechen soll. Zwar kenne ich Johannes schon sehr lange, doch so darf er nicht mit mir reden. Niemand darf so mit mir reden. Andererseits ist es in meinem Alter töricht und dumm, den Beleidigten zu spielen. Ich bin dreiundachtzig. Ich habe keine Zeit mehr, beleidigt zu sein.
„Wie meinst du das?“, frage ich.
„Jetzt hör mir mal gut zu, Richard! Du wirst noch heute Abend bei Olga anrufen und dich entschuldigen, und dann wirst du morgen in die Stadt fahren, ein ordentliches Geschenk besorgen und es bei ihr abliefern, die Anschrift gebe ich dir gleich. Du solltest dich in Grund und Boden schämen, hast du überhaupt eine Ahnung, was diese Frau hinter sich hat?“
Ja ist denn die ganze Welt verrückt geworden! Jetzt wird es mir doch zu bunt und ich lege auf. Ächzend erhebe ich mich aus dem Armlehner meiner Mutter und gehe auf den Stock gestützt zum Fenster. Der Feierabendverkehr rollt zweispurig in die Innenstadt hinunter, Maschinen aus Stahl und Kunststoff, verzerrte Gesichter hinter den Windschutzscheiben. Mich überfällt ein Gefühl von Unausweichlichkeit. Die Worte von K. kommen mir in den Sinn: Mein Gott, Plonker, was erwarten Sie denn? Gern würde ich ein Fenster öffnen, aber alles, was dann hereinzieht, ist der Gestank der Abgase. Verpestete Luft. Erst in einer Stunde wird es besser. Und in die Küche mag ich nicht gehen, sie ist unaufgeräumt, in der Spüle türmt sich das dreckige Geschirr und auf dem Boden liegt immer noch Olgas Schürze. Olga. Hat sie einen Mann, hat sie Kinder? Ich weiß nichts über sie. Es hat mich auch nie interessiert. Und ich habe nicht vor, auf meine alten Tage noch sentimental zu werden. Nein, Johannes, sie wird mich anrufen und sich entschuldigen!
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