„Ich bin Vestalin und kann drei und drei zusammenzählen. Ich frage mich nur, ob er sie euch je geben wird.“
„Er wird versuchen, beide in seinen Besitz zu bekommen, so wie ich ihn kenne. Ich bin mir aber sicher, dass auch Odin dies bewusst ist.“
Sie nickte unwillig. „Ich werde jetzt zu ihm gehen.“
Ihr Vater machte eine kleine hilflose Geste. „Mirabella, es tut mir leid, dass die Umstände für das erste Kennenlernen nicht besser sind.“
„Mir auch“, erwiderte sie kühl.
„Habe ich nicht wenigstens eine Chance verdient? Ob du es willst oder nicht, ich bin dein Vater.“
„Nein, das bist du nicht!“, fauchte ihn Mirabella an. „Jupiter ist mein Vater. Er hat sich um mich gekümmert, er hat mich ausgebildet und er liebt mich. So wie er meine Mutter geliebt hat. Und du hast ihn hintergangen, das werde ich dir nie verzeihen!“
Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und rannte zur Tür hinaus.
Als sie Walhall verlassen hatte, holte sie einmal tief Luft und überlegte, wo Odin sich aufhalten könnte. Zielstrebig ging sie zu seinem Thronsaal, wo sie ihn mit seinen beiden Raben sitzend fand.
„Du weißt, dass ich von hier oben alles überblicken kann, was sich in Asgard zuträgt?“, fragte er Mirabella, als sie vor ihm stand.
„Ich habe so etwas gelesen. Und?“
„Thor ist als Menschenfreund und liebender Vater bekannt, gib ihm eine Chance!“
„Wozu? Ich brauche keine drei Väter“, erwiderte sie trotzig.
Odins Stirn legte sich kurz in Falten. „Ach, du meinst deinen menschlichen Adoptivvater? Der wird dir wohl bleiben, aber was meinst du, wird passieren, wenn Jupiter erfährt, dass du nicht seine Tochter bist? Er wird dich fallen lassen, vielleicht sogar deinen Tod anordnen, um Thor zu strafen und die Schande zu tilgen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob er noch in so altmodischen Bahnen denkt. Interessanter ist: wie willst du verhindern, dass Loki die Wahrheit ausplaudert, nachdem ich die Statue besorgt habe? Ich bin nur solange sicher, wie ihr die Statue nicht besitzt, scheint mir.“
„Loki ist bekannt als Lügenmaul, ihm glaubt niemand, wenn wir das Gegenteil behaupten.“
„Die Olympier könnten Beweise fordern, es gibt doch sicher bei euch auch so eine Art von Vaterschaftstest oder nicht?“
„Gewiss, aber da gibt es Mittel und Wege. Eine Probe deines vermeintlichen Bruders Nikolaos könnte durchaus helfen.“
„Und wie sollte man an die herankommen?“
„Kommst du nicht in seinem Auftrag?“
Mirabella sah Odin verwundert an. „In seinem Auftrag? Er weiß nicht, dass ich hier bin.“
Odin fixierte hinter ihr einen Punkt. Als sie sich umdrehte, erkannte sie Loki, der an der hinteren Wand lehnte, und ihr nun zunickte.
„Was soll das?“, fragte sie Odin verärgert.
„Sie sagt die Wahrheit“, rief nun Loki dazwischen.
Odin nickte und schickte ihn mit einer Handbewegung raus.
Mirabella schnaubte wenig besänftigt.
„Nikolaos weiß also nichts von deiner Anwesenheit, von deinem Deal?“
Wahrheitsgemäß schüttelte sie den Kopf.
„Weiß er, dass Thor dein Vater ist?“
„Nein“, das war auch nicht richtig gelogen, er vermutete es bisher nur.
„Wo warst du letzte Nacht?“
Mirabella warf Odin einen gespielt überraschten Blick zu. „Ist das hier ein Verhör? Ich war in Nordschweden mit den Jungs in einer Hütte.“
„Die ganze Nacht?“
„Nein, ich war kurz im Vesta-Tempel und in unserer Zwischenwelt, ich bin bei den Amazonen, wie du weißt, und hatte als solche einen kleinen Einsatz bei den Pterripus.“ Sie machte sich eine Notiz im Kopf, nachher bei Palatina, ihrer Flügelpferd-Freundin, vorbeizuschauen.
„Und dabei kam dir, du müsstest nun mit mir reden?“ Odins Stimme klang spöttisch.
„Nein, eine Bemerkung von Uller gestern Abend machte mich stutzig. Er behauptete, Loki hätte das Gerücht verbreitet, Ragnar und ich wären ein Liebespaar, würde es jetzt jedoch vehement abstreiten. Wieso das? Weil er inzwischen erfahren hatte, dass wir Zwillinge sind!“
Odin betrachtete sie einen langen Moment kritisch. „Also gut, ich werde dir fürs erste glauben, aber ich warne dich, Mirabella. Treib kein doppeltes Spiel mit uns, Verräter werden hart bestraft. Und als Nicht-Olympier und Asen-Verräter gibt es niemanden mehr, der dir helfen wird.“
Sie lächelte bitter. „Ja, eigentlich kann ich nur verlieren. Nochmals danke an deinen Sohn!“
„Oh, der Dank gebührt eher mir, es war meine Idee, mein Geschenk an Thor für die perfekte Rache. Nur ich wusste, wieviel deine Mutter Jupiter bedeutet hat.“
„Wieso hast du dann Thor vorgeschickt?“
„Es sollte seine Rache sein, außerdem würde ich mich nie mit Menschen abgeben.“
„Kam dir mal der Gedanke, dass du deinem eigenen Sohn damit auch geschadet haben könntest?“
Tatsächlich seufzte Odin leicht. „Eben gerade“, gab er zu.
Mirabella sah mit Genugtuung seine leichte Zerknirschtheit.
„Willst du mir den Gefallen tun, deine Wut an mir und nicht an ihm auszulassen?“, fragte er schließlich.
„Ich kann nichts versprechen“, gab Mirabella mit blitzenden Augen zu.
Odin lächelte plötzlich. „Du erinnerst mich sehr an den jungen, immer wütenden Thor, er stellte mich mehr in Frage als jeder andere Sohn. Ich weiß auch, dass er mein neues Bündnis mit Loki verurteilt.“
„Zu Recht“, erwiderte sie trotzig.
„Ich weiß, was ich tue, Mirabella, ich bin kein Narr. Weißt du, was du tust?“
Sie sah ihn fragend an.
„Hast du einen Plan für den Raub der zweiten Statue?“
„Noch nicht, die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm. Nachdem die erste gestohlen wurde, ist der Aufbewahrungsort praktisch uneinnehmbar gemacht worden, aber ich werde einen Weg finden. Ich bin schließlich die Hüterin der Statue.“
„Gut, wir haben Zeit, solange die andere Statue nicht an die andere Seite fällt.“
Mirabella nickte, dann sah sie Odin fragend an. „Was versprecht ihr euch von den Statuen eigentlich?“
„Haben dir die Olympier erzählt, dass sie nur zur Herstellung des Friedens dienen, sie daher wiedervereinigt werden müssen?“
Das Mädchen nickte unsicher. „Und das ist nur die halbe Wahrheit?“
Odin lachte trocken. „Sie sind der Schlüssel zur Macht, mein Kind! Warum sind die Statuen von Griechenland nach Rom gewandert? Was passierte mit dem griechischen Reich und seinen Göttern?“ Der einäugige Gott fixierte seine Enkelin abwartend.
„Es wurde vom Römischen Reich und seinen Göttern abgelöst.“
„Genau, und was passierte nach der Trennung der Statuen vor über 1500 Jahren?“
Mirabella sah auf. „Das Römische Reich zerfiel, niemand glaubte mehr an die antiken Götter.“
Odin sah sie triumphierend an. „Die römische Götterdämmerung und die unsrige.“
„Der Glaube an euch ging damals auch verloren?“
„Nicht sofort, wir waren auch zu unser Blütezeit nur mehr lokale Gottheiten, aber nach und nach glaubte niemand mehr an uns. Im Mittelalter, als das Christentum in ganz Europa an die Macht gekommen war, wurde das wichtigste Werk über uns verfasst, sozusagen posthum.“
„Die Christen hatten aber nie die Statuen, oder?“ Sie verstand nicht so ganz, was Odin sagen wollte.
Er schüttelte den Kopf. „Aber das Erstarken war möglich durch die Trennung der Statuen. Wer immer sie heute wieder zusammenführen könnte, hat die Macht, eine neue europäische Religion zu stiften und anzuführen.“
„Die Menschen sind heute aufgeklärt, ich glaube nicht, dass eine Religion für alle Erfolg hat“, widersprach sie skeptisch.
„Religion im Sinne einer Ideologie würde durchaus funktionieren, Kind. Nimm zum Beispiel den allerorts erstarkenden Populismus und Nationalismus!“
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