Eines Nachmittags, als Joan mit Laila und Celia bei den Pferdeställen stand und die Pferde mit Futter versorgten, hielt ein roter Kleinwagen vor dem großen Eisentor des Geländes und begann laut zu Hupen. Erschrocken zuckten alle drei zusammen.
„Ihr bleibt beide hier bei den Pferden“, sagte Joan zu den Mädchen und folgte der jungen Nonne, die über den Rasen gelaufen kam. Mit schnellem Schritt rannten sie den schmalen von Ästen verhangenen Weg entlang und nur das Eisentor trennte sie von dem aufgebrachten jungen Mann, dessen weißes Hemd mit Blut durchtränkt war.
„Helfen Sie mir!“, rief er ihnen aus der geöffneten Beifahrertür zu. Ein Blick ins Wageninnere zeigte ihnen eine dunkelhaarige, junge Frau.
Augenblicklich schloss die Nonne das Tor auf und rannte um den Wagen herum. Was sie darin erblickte, verschlug ihr die Sprache. Die junge Frau, kaum älter als sie selbst, saß bewusstlos auf dem Beifahrersitz. Der Oberkörper war voller Blut. Jemand hatte ihr mit einem Messer die Brust aufgeschlitzt.
„Sie muss ins Krankenhaus!“, sagte Joan, die gegen ihren Brechreiz ankämpfte.
„Dort kann sie nicht hin“, sagte der Junge, der das Mädchen offensichtlich hatte beschützen wollen, denn an seinem Arm rann ebenfalls Blut hinunter.
„Kommen Sie... helfen Sie uns!“, forderte die Schwester ihn auf und packte die Arme des Mädchens an.
Mit Hilfe des jungen Mannes trugen sie die Verletzte ins Kloster und brachten sie in das Behandlungszimmer, wo Schwester Ruth zu ihnen stieß, die früher als Krankenschwester gearbeitet hatte.
„Wir haben hier nicht die Möglichkeiten, sie zu behandeln. Sie wird verbluten“, entgegnete Joan aufgeregt, da sie die Blutung nicht stoppen konnten.
„Informieren sie den Doktor. Er muss sofort herkommen“, wies Schwester Ruth die andere Schwester an, die sogleich aus dem Zimmer eilte.
Keine zehn Minuten später kam der alternde Arzt mit seiner Arzttasche ins Zimmer gerannt, der für jegliche ärztliche Maßnahmen gerufen wurde, und beurteilte die Schwere der Verletzung.
„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte der Arzt und sah zu den beiden jungen Frauen auf. „Ich brauche Sie beide. Ich muss die Wunde nähen.“
„Ich habe so etwas noch nie gemacht“, platzte Joan hervor.
„Keine Angst, Sie werden Schwester Ruth und mir nur die Instrumente reichen. Schwester, gehen Sie sich die Hände waschen“, wandte er sich darauf an Schwester Ruth, die nickte und für einen Moment verschwand.
„Wird Sie durchkommen?“, fragte Joan den Arzt, als sie allein waren. „Sie hat sehr viel Blut verloren...“
„Wir werden unser Möglichstes tun“, antwortete der Arzt völlig ruhig, während er dem Mädchen ein Narkotikum spritzte. Er sah kurz zu Joan auf. „Ziehen Sie sich die Handschuhe über“, wies er sie an.
Nachdem Schwester Ruth zu ihnen zurückgekehrt war, verdrängte Joan jegliche Gedanken an den Umstand der Verletzung und konzentrierte sich einzig auf die Anweisungen des Arztes und der Schwester.
Auf ihrer einstündigen Heimfahrt schwiegen Joan und Rachel. Sie dachten beide an das junge Mädchen, das nach der Operation noch nicht aufgewacht war. Der Arzt hatte jedoch gemeint, dass sie es schaffen würde.
„Du solltest dich umziehen gehen“, sagte Rachel, als sie das Auto vor dem
Haus abstellte und einen Blick auf ihre Freundin warf. An Joans Kleidung klebte das Blut des Mädchens.
„Oh Gott! Was ist passiert?“, fragte Brian von ihrem Anblick schockiert. „Ist euch etwas zugestoßen?“
„Uns geht es gut, Liebling“, beruhigte Rachel ihn. „Es gab einen Zwischenfall im Kloster.“
„Von wem ist das Blut?“
„Es ist nicht meins, Brian“, sagte Joan und flüchtete die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Dort zog sie sich ihre Kleidung aus und stieg unter die Dusche.
„ Rachel “, sagte er mit fester Stimme. „Was ist passiert?“
Da erzählte Rachel ihm von dem Ereignis im Kloster, Joans Einsatz bei der Operation und das das Mädchen noch nicht zu sich gekommen war.
„Ihr werdet nicht mehr ins Kloster fahren. Es ist zu gefährlich“, erklärte er in Sorge um sie entschieden, doch als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass Rachel seiner Aufforderung nicht folgen würde. Sie war sich der ständigen Gefahr bewusst, der sie sich als Helferin aussetzte, aber es war nicht nur ihr Job, sondern vielmehr der innere Drang diese Frauen und Kinder vor ihren Peinigern zu beschützen. „Sei wenigstens vorsichtig“, bat Brian seine Freundin besorgt.
„Das verspreche ich dir. Ich setze mich keiner unnötigen Gefahr aus.“
In dieser Nacht schlief Joan kaum. Sie wurde die Bilder nicht los, sah das blutüberströmte Mädchen wieder auf dem Beifahrersitz liegen. Immer wieder sah sie das viele Blut vor sich. Es klebte an ihrer Kleidung... ihren Händen... und ihrem Gesicht. Zum wiederholten Male wachte Joan schwitzend auf und schaltete das schwache Licht der Nachttischlampe an, um so zurück in die Wirklichkeit zu gelangen.
Der Morgen schien wie jeder andere zu sein. Nachdem Joan ihre Kleidung in den Müll geworfen hatte, wusch sie sich abermals die Hände und setzte sich zu Brian und Rachel an den Frühstückstisch.
„Begleitest du Rachel wieder ins Kloster?“, fragte Brian seine Schwester in der Hoffnung, sie würde seine Frage verneinen.
Joan aber nickte. „Ich möchte nach dem Mädchen sehen.“
Brian schüttelte den Kopf und sah zu Rachel. „Nach dem gestrigen Tag, kennst du meine Meinung. Fährst du dennoch?“
„Ich muss, Brian... Bitte versteh’ das.“
„Tut mir leid, aber das kann ich nicht“, sagte er verdrossen, schob mit einem lauten Knarren seinen Stuhl zurück und eilte aus der Küche.
„Briiaan!“, rief Rachel ihm nach. Da hörten sie, wie die Eingangstür ins Schloss fiel.
„Was hat er denn?“, fragte Joan und begann den Tisch abzuräumen.
„Er ist um uns besorgt.“
Joan lächelte. „Brian macht sich immer um uns Sorgen.“
Als sie eineinhalb Stunden darauf im Kloster eintrafen, wurden sie bereits von Schwester Evelyn erwartet. Lächelnd kam sie von den Pferdeställen zu ihnen herübergelaufen.
„Laila und Celia werden morgen von ihrer Großmutter abgeholt. Sie hat die Verantwortung für beide übertragen bekommen“, teilte sie ihnen erfreut mit.
Joan lächelte. „Endlich eine gute Nachricht“, sagte sie, obwohl sie die Mädchen vermissen würde. In den vergangenen Monaten waren sie Freundinnen geworden. „Und was ist mit ihrem Vater? Ist er im Gefängnis?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Er hatte einen Unfall“, sagte Schwester Evelyn leise. „Er war auf dem Weg zu uns, als er betrunken von der Strasse abkam und gegen einen Baum fuhr. Man konnte ihm nicht mehr helfen.“ Die Schwester senkte den Blick und gedachte dem Mann. Für Joan und Rachel war er ein Schwein, das nicht annähernd seine gerechte Strafe bekommen hatte.
Am nächsten Tag fuhren Joan und Rachel eher als üblich ins Kloster. Joan wollte die Stunden vor der Abreise der Mädchen mit ihnen verbringen. Laila und Celia waren aufgeregt, da sie ihre Großmutter vor Jahren zuletzt gesehen hatten und sie kaum kannten. Als schließlich das kleine, blaue Auto vorfuhr, fielen die Mädchen in Joans Arme. Tränen liefen über ihre Wangen, während sie einander ein letztes Mal fest drückten.
„Es wird euch an nichts fehlen“, flüsterte Joan.
„ Du wirst uns fehlen“, sagte Laila mit Tränen in den Augen.
„Ihr werdet mir auch fehlen.“ Abermals zog Joan sie in ihre Arme und beobachtete Minuten darauf, wie die beiden in das Auto ihrer Großmutter stiegen. Vom Tor aus winkten die Nonnen sowie Rachel und Joan ihnen nach. „Sie werden bei ihr ein besseres Leben haben“, sagte Joan leise.
An den darauffolgenden sieben Tagen kümmerte Joan sich ausschließlich um das verwundete Mädchen, das die meiste Zeit über schlief. Täglich wechselte sie den Verband und als sich der Arzt die Wunde erneut ansah, schien er zufrieden zu sein. Er hatte einen Großteil des Gewebes entfernen müssen, sodass die Brust nun sehr viel kleiner als die andere war, doch ihm genügte, dass das Mädchen überhaupt noch lebte.
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