„Wie viele Nonnen und Schwester kümmern sich um all das hier?“, fragte Rachel interessiert und ließ den Blick über die endlosen Felder hinter den Stallungen schweifen. Sie konnte sehen, dass darauf noch immer Obst und Gemüse angebaut wurde.
„Siebzehn“, antwortete Schwester Evelyn in belanglosem Ton.
Rachel blieb der Mund offen stehen. „Siebzehn Frauen bewirtschaften diese Felder, versorgen die Tiere und kümmern sich um fast fünfzig misshandelte Kinder und Frauen?“, fragte sie fassungslos. Ihre Bewunderung für die Nonnen stieg ins Unermessliche. „Das ist unglaublich.“
An diesem Abend verließen sie erst nach sieben Uhr das St. Christoph’s. Rachel hatte die Oberin persönlich kennen lernen dürfen und ein sehr langes und interessantes Gespräch mit ihr geführt. Sie war davon überzeugt, ebenfalls helfen zu können, indem sie speziell für das Kloster eine Wohltätigkeitsveranstaltung mit Fotos und Gesprächssaussagen in Los Angeles organisierte. Dabei bekämen dann mögliche Spender erstmals einen näheren Einblick in die Arbeit einer Hilfsorganisation außerhalb Amerikas. Dankbar für jede Unterstützung willigte die Oberin ein und freute sich über die beiden jungen Frauen, die sie von nun an jeden Tag besuchen kämen.
„Du begleitest Rachel?“, fragte Brian beim Abendessen seine Schwester überrascht, da sie nie zuvor sonderliches Interesse an Rachels Arbeit gezeigt hatte.
„Ich möchte helfen“, erklärte Joan.
Er lächelte. „Das finde ich gut.“
Der Sommer verging mit ihren täglichen Besuchen im Kloster viel zu schnell. Obwohl ein Tag dem anderen glich, langweilten sie sich niemals in der Gesellschaft der Kinder und Frauen des St. Christoph’s. Morgens brachen Rachel und Joan zu ihrer einstündigen Autofahrt auf, verbrachten den Tag mit Gesprächen und Spielen im Kloster und fuhren am späten Nachmittag wieder heim, wo sie mit Brian zu Abend aßen.
Im September brachte ein alter Mann zwei völlig verängstigte Mädchen ins Kloster. Er vermutete, dass sie sich tagelang auf seinem Hof versteckt hielten, ehe er die abgemagerten Mädchen entdeckt hatte. Ihre kleinen Körper waren mit Narben und frischen, noch blutenden Schrammen überseht, als der Mann sie zu ihnen brachte. Beim Anblick der ausdruckslosen Augen verkrampfte sich Joans Herz. Noch nie zuvor hatte sie etwas so grauenvolles gesehen.
In den nächsten Wochen versuchten die Nonnen und auch Rachel den Mädchen, die vermutlich Schwestern waren, in Gespräche zu verwickeln, doch keine der Frauen brachte sie zum Sprechen, was vermuten ließ, wie tief die Angst der Mädchen saß.
Als Joan eines Tages mit einer der Stuten über die Wiese gelaufen kam, sah sie, wie die Mädchen sie von der untersten Steinstufe des Klosters beobachteten. Langsam überquerte sie die Wiese weiter in Richtung der Stallungen und überlegte, ob sie zu den Schwestern hinüber gehen sollte. Irgendetwas schien die Mädchen an ihrem Anblick zu interessieren, denn noch nie zuvor hatten sie die Köpfe in der Gegenwart eines Erwachsenen erhoben. Selbst zu den anderen Kindern hatten sie keinen Kontakt aufgenommen, sie lebten für sich, zurückgezogen und immer auf der Hut.
„Möchtet ihr eine Runde auf ihr reiten?“, fragte Joan die Mädchen aus einigen Metern Entfernung, ehe sie sich bewusst wurde, was sie da tat, denn sie hatte keinerlei Erfahrung mit misshandelten Kindern. Rachel war die Expertin, sie dagegen war nur mitgekommen, um die Kinder zu beschäftigen. „Traut euch ruhig, sie beißt nicht“, sagte Joan unsicher. Die Mädchen tauschten einen Blick und sahen Joan scheu an, die nun lächelte. „Ich verspreche euch, ich beiße auch nicht.“ Da standen die Schwestern in ihren weißen Kleidern tatsächlich von der Stufe auf. Die Jüngere der Beiden hielt sich dicht an ihre Schwester, die wiederum ihre Hand hielt. Mit langsamen Schritten kamen sie über den Rasen zu Joan und dem Pferd gelaufen.
„Sie ist ganz zahm“, sagte Joan und streichelte der Stute über die lange Mähne. „Ihr könnt sie auch streicheln, wenn ihr wollt“, bot sie ihnen mit sanfter Stimme an und beobachtete, wie die Ältere der Schwestern die Hand ihrer Schwester losließ und näher an die Stute herantrat. Mit ausdruckslosem Gesicht berührte sie das Fell am Bauch der Stute und streichelte sie mit ihrer flachen Hand. „Das gefällt ihr“, sagte Joan lächelnd und das Mädchen schien sich in ihrer Gegenwart ein wenig zu entkrampfen. Sie schien zu spüren, dass von Joan keine Gefahr ausging. „Ich bin Joan“, stellte sie sich im beiläufigen Ton vor, während sie mit der Hand über die Nüstern der Stute fuhr. „Verrätst du mir eure Namen?“
Das Mädchen hielt inne und sah sie scheu an. In ihrem Blick lag tiefe Angst. Wovor sie Angst hatte, wusste Joan nicht, doch sie hatte sie bei beiden Mädchen bemerkt, sobald sich ihnen jemand näherte. „Laila“, sagte die Ältere plötzlich und sah ihre Schwester an. „Das ist Celia.“
„Ihr habt sehr hübsche Namen.“ Sie lächelte, als sie bemerkte, wie geschickt nun auch Celia mit der Stute umging. „Du machst das wunderbar, Celia. Woher könnt ihr das so gut? Lebt ihr auf einem Bauernhof?“
Laila zögerte, dann nickte sie und nahm die Hand ihrer Schwester.
„Ich muss die Stute zurück in den Stall bringen, aber wenn ihr möchtet, könnt ihr noch eine Weile bei ihr bleiben“, schlug Joan ihnen vor. Als sie keine Antwort bekam, setzte sie sich mit der Stute langsam in Bewegung. Nach wenigen Schritten bemerkte sie, dass die Schwestern ihr folgten.
Mit jedem weiteren Tag drang Joan auf ihre eigene Art zu den Mädchen durch und erfuhr aus den wenigen Worten, die die Schwestern sprachen, dass sie dreizehn und elf Jahre alt waren. Nach einigen Wochen erzählte Laila unter Tränen von ihrer geliebten Mutter, die vor vier Jahren gestorben war. Mit dem tragischen Tod der Mutter hatte sich das Leben der Mädchen von Grund auf verändert. Von einem zum anderen Tag war der streng erziehende Vater mit seinen beiden Töchtern allein. Er hatte schon immer die Hand gegen sie erhoben, wenn sie Unfug angestellt hatten, doch nun ließ er seine Wut über den Tod seiner Frau bei jeder Kleinigkeit, jedem Widerspruch an Laila und Celia aus. Laila erzählte Joan, wie sie ihre kleine Schwester wieder und wieder vor der strafenden Hand des Vaters geschützt und dafür doppelte Prügel von ihm bekommen hatte. Nicht nur einmal schlug er sie bis zur Bewusstlosigkeit und brach ihr etliche Male die Rippen. Dennoch musste Laila unter schlimmen Schmerzen auf dem Bauernhof weiterarbeiten. In diesen Wochen glaubte sie die schrecklichste Zeit ihres Lebens zu durchleben, doch als ihr Vater eines Tages in ihr Zimmer kam und sie bat, lieb zu ihm zu sein, wurde sie eines Bes-seren belehrt. Seither verging er sich regelmäßig an ihr. Monate darauf hatte sich auch Celias Blick verändert.
Im September und Oktober bekam das Kloster soviel Zulauf wie noch nie zuvor. Immer öfter kamen junge Frauen zu ihnen, die jahrelang misshandelt worden waren. Verzweifelte Mütter gaben ihre Kinder in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Obhut der Nonnen und kehrten zu ihren Männern zurück. Meistens hörten diese Kinder nie wieder etwas von ihren Eltern, doch Joan dachte, dass dies vielleicht so besser war. Sie waren der Hölle entkommen und hatten nun zum ersten Mal die Chance auf ein normales Leben. Ein Leben ohne Gewalt.
Neben dem großen Ansturm auf das Kloster, bemerkte Joan, dass die körperlichen Verletzungen ihrer Schützlinge zunehmend schlimmer wurden. Längst blieb es nicht mehr bei Schlägen und Vergewaltigungen. Zu ihnen kamen Frauen, deren Gesicht durch die harten Schläge kaum mehr erkenntlich war. Hinter tiefen Narben, Blutergüssen und geschwollenen Augen schien es niemanden mehr zu geben. Um ein Haar wären sie zu Tode geprügelt worden. Blickte man in die Augen der Frauen, dann sah man bei den meisten, dass es Momente gegeben hatte an denen sie sich nichts sehnlicher als ihren Tod gewünscht hatten. Unter den Mädchen und jüngeren Frauen gab es etliche, die zur Prostitution gezwungen worden waren. Bei einigen von ihnen stellte der Arzt so schwere Verletzungen im Intimbereich fest, die erkennen ließen, dass sie niemals eigene Kinder bekommen würden könnten. Viele von ihnen waren nicht älter als fünfzehn Jahre.
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