Die Holzdielen quietschten, jemand kam zu ihr und am Gang erkannte Johanna, dass es Astrid war. Auf keinen Fall wollte sie ihr begegnen, schnell rutschte sie unters Bett und presste sich die Hand vor den Mund, damit sie sich nicht verraten konnte. Die Tür öffnete sich. Johanna betrachtete die Schuhe von Astrid, die mit der Spitze zu ihr wiesen. Was machte Astrid da nur? Oh, Gott, war das ein Spiel, wusste sie, wo Johanna sich versteckte? Tiefer konnte Johanna nicht sinken, wenn Astrid gleich nachsehen würde; wenn gleich ihr Gesicht mit dem Grinsen erscheinen und die Frage kommen würde, was dieser Kinderkram solle. Bei jeder Gelegenheit zeigte Astrid ihr, wie unreif sie sei, ganz im Gegenteil zu ihr oder Claudia. Die linke Spitze bewegte sich. Johanna durchzuckte etwas, das wie der Stromschlag war, den sie abkriegte, wenn sie mit den Mädchen im Wettstreit an den Elektrozaun der Weiden griff. Der Schuh wurde wieder an die alte Position gestellt. Hör endlich auf, Astrid. Am liebsten hätte Johanna wieder zu heulen angefangen, sie wusste, Astrid beherrschte dieses Spiel besser als sie. Noch einmal bewegte sich der Schuh und Johanna nahm die Hand vom Mund, es hatte sowieso keinen Sinn. Der Schuh wurde wieder zurückgezogen und dann ging Astrid weg.
Erst nach einer halben Stunde kroch Johanna unter dem Bett hervor und wusch sich ihr Gesicht. Wie ein Hund, der aus dem Wasser ans rettende Ufer klettert, sein Fell schüttelt und davontrottet, ging Johanna nun zum Opa, um mit ihm eine Partie Mühle zu spielen. So war das damals gewesen mit ihrem ersten Kuss.
Die Piratin hielt ihre Finger noch immer an die Lippen. Sie zwinkerte ihrem Spiegelbild zu und griff nach einem Stift mit dem sie sich einen Schmiss auf die Wange zeichnete. Danach legte sie den Degen an, den sie auf dem Dachboden gefunden hatte. Ihr Vater war in seiner Studentenzeit Mitglied einer schlagenden Verbindung gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben gefiel sie sich von Kopf bis Fuß. Ja, sie war nicht die Schönste im Land. Ja, sie war die Frucht einer Dorfromanze. Ja, ihre Eltern waren kein Liebespaar. Ja, durch ihre Schuld war ein Mensch ums Leben gekommen. Aber heute Abend würde sie sich amüsieren, würde sie tanzen und lachen, sich ins Leben stürzen. Nein, sie war nicht wie ihre Mutter.
Der Abiturball war ein Erfolg. Johanna redete sogar mit Schülern, mit denen sie in der Oberstufe kaum ein Wort gewechselt hatte. Sie fühlte sich dazugehörig, tanzte mit den anderen im Kreis und trank auf ihre Zukunft. Sie bekam Komplimente wegen ihres Kostüms und der eine oder andere Junge flirtete mit ihr. Sie aber fand Gefallen an dem Kellner. Sie interessierte sich tatsächlich für einen Mann und sie ließ es geschehen. Die ganze Zeit hatte sie ihn im Visier. Conny, die Schulsprecherin, lehnte ihren Arm auf Johannas Schulter.
„Jonnie, Süße, du bist lockerer als ich gedacht habe. Mit dir kann man Spaß haben.“ Johanna gab ihr einen Knutscher auf die Backe. Der Kellner sah herüber zu ihr. Sie grinste ihn an und er grinste zurück. „Du hast Geschmack, der Typ ist heiß“, sagte Conny in einer Lautstärke, die auch er verstehen konnte.
Der heiße Typ ging an den beiden vorbei und streifte dabei Johannas Arm. Ihr wurde etwas schwummrig. Conny holte einen Joint aus ihrer Hosentasche.
„Durchs Pottrauchen haben die Frauen in meiner Familie seit Generationen den Orgasmus entdeckt.“ Conny ließ ihn in Johannas Ausschnitt fallen. „Süße, versau mir die Statistik nicht“, sagte sie und stürzte sich wieder auf die Tanzfläche. Das verrückte Huhn war schon eine Nummer für sich, und sie war wirklich nett.
Johanna fischte nach dem Joint, da fragte sie der Kellner, ob sie Hilfe brauche. Sie käme darauf zurück, antwortete sie. Jetzt galt es, einen Joint auszuprobieren. Schließlich gab es immer ein erstes Mal. Im Vorbeigehen schnappte sie sich ein Streichholzheftchen vom Tresen und verschwand auf den Parkplatz. Kassiopeia, Schlange und die anderen funkelten um die Wette. Bei ihrem ersten Zug bekam Johanna gleich einen Hustenanfall. Das Zeug war stark, brannte im Rachen, aber sie gab nicht auf. Komisch, es schien keine Wirkung auf sie zu haben. Doch dann bemerkte sie ein Kribbeln, das sich ausbreitete. Eine Sternschnuppe blitzte auf. Das fand sie so lustig, dass sie vor lauter Lachen vergaß, sich etwas zu wünschen.
„Darf ich mitlachen?“ Der Kellner war ihr nach draußen gefolgt.
„Das ist dein Wunsch?“, fragte sie, worauf er verdutzt dreinblickte. „Die Sternschnuppe, hast du sie nicht gesehen? Also, was ist dein Wunsch?“
Johanna zückte ihren Degen und richtete ihn auf seine Brust. Er erhob die Arme und kam einen Schritt vor. Die Spitze drückte sich in sein Hemd.
„Ich bin unbewaffnet und ergebe mich Eurer Gnade“, sagte er, wobei sein Blick ihrem standhielt. Es wäre eine Schande gewesen, eine solche Beute zu verschmähen. Ihr Arm senkte sich Stück für Stück, ein Hemdknopf nach dem anderen fiel. Dann warf sie den Degen zu Boden und griff nach seinem Nacken.
Was für ein Körper, was für ein Mund. Sie konnte gar nicht genug bekommen. Und was für Pobacken. Keine Sekunde dachte sie darüber nach, dass jemand sie sehen könnte, dass sie den Mann gar nicht kannte. Sie wollte diesen Mann, genau diesen Mann und zwar hier und jetzt. Das war ihre Nacht, die Nacht, in der sie sich häutete. Schaut nur zu, Kassiopeia und Schlange.
Als im Oktober ihr Politikstudium beginnen sollte, freute sie sich auf das neue Leben. Einen Anfang hatte sie bereits gemacht. Das alte Leben würde zurückbleiben. Johanna hatte gepackt und überlegte, ob sie sich von ihrer Mutter verabschieden sollte. Mit Absicht bügelte die Mutter im Keller die Wäsche. Wenn sie im Wohnzimmer gewesen wäre, hätte Johanna praktisch im Vorbeigehen Tschüss sagen können. So müsste sie hinuntergehen. Das wäre eine Niederlage und genau das wollte ihre Mutter. Darauf konnte Johanna verzichten.
Der Vater fuhr sie zum Bahnhof. Mehr als einen Rucksack und zwei Sporttaschen hatte sie nicht dabei. Sie würde ein möbliertes Zimmer im Studentenwohnheim beziehen, was ihrem Vater nicht gefiel, aber sie hatte sich durchgesetzt. Am Bahnsteig gab ihr der Vater noch einen Fünfzigmarkschein, damit sie in ein Restaurant gehen konnte, schließlich würde sie nicht mehr zum Einkaufen kommen.
Und dann sagte der Vater: „Ruf deine Mutter an. Es ist schwer für sie, dass du fortgehst.“
Für Johanna war es stets seltsam gewesen sich vorzustellen, dass die Eltern über persönliche Dinge sprachen, sich Sorgen und Freuden anvertrauten. Taten sie das? Eher wirkten sie wie zwei Fremde, die sich ab und an in einem großen Haus begegneten. Wahrscheinlich interpretierte ihr Vater zu viel in das Verhalten der Mutter hinein. Die Mutter vermisste jemanden, an dem sie herummäkeln konnte. Johanna nickte und winkte zum Abschied.
Das Leben an einem anderen Ort ermöglicht einem, Ballast zurückzulassen. Doch manchmal reisen einem Altlasten hinterher. Im vierten Semester erhielt Johanna eine Postkarte mit Babyschuhen als Motiv. Katja hatte eine Tochter geboren. Die Eltern verkündeten ihr Glück. Es war die erste Karte von Katja gewesen.
Johanna hatte schon lange nicht mehr an die Freundinnen aus Kindertagen gedacht. Die Sache war für sie abgeschlossen, war verarbeitet. Deswegen wollte sie auch nicht auf die Karte antworten. Warum alte Bindungen erneuern, Höflichkeit war nicht erforderlich nach so vielen Jahren. Doch dann, vielleicht aus einem Impuls vergangener Schuldgefühle, schickte sie Katja eine Gratulationskarte, was ein Fehler war. Von da an erhielt sie jede Weihnachten Briefe, besser gesagt Kopien, in denen Katja über die Entwicklung ihrer Tochter und die Ereignisse in der Familie berichtete. Quasi ein Familienjournal für alle Verwandten und Bekannten und den Ehemann, der häufig auf Montage war. Ein Journal über eine Bilderbuchfamilie, so stellte es zumindest Katja dar.
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