Nach der Beerdigung des Großvaters gab es nie wieder Schläge, aber die Mutter konnte ihre Tochter auch ohne Fäuste verletzten. Wie an dem Tag von Johannas Abiturball.
Das Motto lautete: Freibeuter der sieben Meere. Die Eltern hatte Johanna nicht eingeladen, weil das ihr Abend werden sollte, was der Vater verstand, die Mutter ihr jedoch verübelte. Johanna machte sich gerade im Bad zurecht. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, schwarze Hosen und schwarze Kniestiefel, dazu eine weiße Bluse mit breiten Ärmeln und tiefem Ausschnitt. Natürlich musste der Busen zur Geltung kommen, nicht zu groß, nicht zu klein, schön rund war er. Mit ihm hatte sie Selbstsicherheit gewonnen; sie war jetzt nicht mehr ein kleines Mädchen, das herumgeschubst wurde, sondern eine Frau. Für eine Spätentwicklerin nicht schlecht. Trotzdem hatte sie keinen Freund. Jungs schienen ihr die Aufregung und das Getue nicht wert. Außerdem waren die Jungs, die sie kannte, alle Mittelmaß. Da regte sich nichts bei ihr.
Sie schwärzte ihre Augen mit Kajal und Wimperntusche. Perfekt. So sah sie verwegen aus, geradezu gefährlich. Gerade wollte sie Lippenstift auftragen, als ihre Mutter einen Blick ins Bad warf, den Kopf schüttelte und weiterging. Plötzlich kehrte sie um.
„Was ist nur mit euch jungen Leuten los? Statt ein hübsches Ballkleid anzuziehen, verkleidet ihr euch, als sei Halloween. Wie willst du jemals einen Freund finden?“
Die Mutter hätte gar nichts zu sagen brauchen, Johanna wusste auch so, was sie dachte. Vermutlich wollte sie ihr nur die Laune verderben. Erstaunlich, dass sie nichts über den Ausschnitt sagte.
Stattdessen sagte die Mutter: „Du bist wie ich.“
Das war ein Witz, sie war ganz und gar nicht wie ihre Mutter, nicht ein Stückchen. Warum redete diese Frau solch einen Unsinn? Doch dann kam der Hammerschlag, gekonnt wie es nur ihre Mutter beherrschte.
„Sex wird überbewertet. Dein Vater und ich hatten nie welchen und führen trotzdem eine gute Ehe. Es gibt sicherlich einen Jungen da draußen für dich, der ebenso denkt.“ Schon rauschte sie zu ihrer Staffelei, denn sie hatte das Aquarellmalen begonnen.
Der Lippenstift war am Kinn gelandet. Johanna nahm ein Kosmetiktuch und wischte ihn weg. Sie hatte nichts gehört, nein, sie musste es aus ihrem Kopf verbannen. Zu spät. Die Mutter hatte es ausgesprochen. Es gab keinen Weg mehr daran vorbei. All die Jahre hatte Johanna es vor ihr und sich selbst wie ein Geheimnis gehütet. Ihr Wissen, das sie sich aus Aussprüchen der Dörfler gebildet hatte. Niemals hätte sie es gegen ihre Mutter verwendet, auch nicht im härtesten Kampf. Immer hatte sie geglaubt, dass es ein dunkler Punkt im Leben ihrer Mutter war und den hatte Johanna schützen wollen.
Sie wollte auch nicht das Produkt eines Walrosses sein, wollte ihren Vater und nicht den Bürgermeister eines Kaffs namens Eichenstövel. Wie konnte ihre Mutter sich nur mit einem fetten, alten Mann einlassen und sich von ihm schwängern lassen? Sie war eine dumme, blöde Kuh. Wie konnte sie es ihr nur auf diese Art und Weise erzählen? Sie wusste doch gar nichts über ihre Tochter, wusste nicht, wie viel sie wusste. Johanna stand vor dem Spiegel, blinzelte mehrmals und drohte ihrem Gegenüber, nicht die Haltung zu verlieren. Ihre Mutter hatte sie verraten für einen Augenblick der Genugtuung. Johanna hielt sich am Waschbecken fest und ließ den Schmerz in sich dringen, leistete keinen Widerstand. Nur weinen, weinen wollte sie nicht. Keine Doofheitsflecken. Nein, sie würde auf den Ball gehen. Als Piratin, vor der sich die Welt fürchtete.
Ihr Vater hätte ihr so etwas nie angetan. Aber was wusste sie schon über ihn. Warum hatte er eine Frau geheiratet, die er nicht liebte? Hatte er ein Keuschheitsgelübde abgelegt, war er impotent oder schwul? Sie konnte ihren Vater schlecht nach seinem Sexualleben fragen. Und ihre Mutter? Sie war ganz und gar nicht so zufrieden, wie sie behauptete. Nein, sie, Johanna, würde nicht enden wie ihre Mutter. Sie hatte Gefühle in ihrem Körper.
Johanna legte ihre Fingerspitzen auf die Lippen und erspürte ihren ersten Kuss. Damals im Sommer auf dem Land. Warme, weiche Lippen, die ihre berührten und deren Wärme wie ein Strom durch ihren Körper floss. Es war zur Zeit ihrer Ekelphase gewesen. Sie ekelte sich vor dem Glibberspeck am Fleisch, vor Gläsern aus denen bereits andere getrunken hatten, vor dem Gemüse in der Suppe und vor den Jungs, die überall hinrotzten, ihre eigenen Popel aßen und die sich in allem den Mädchen überlegen fühlten. Eine Ausnahme gab es. Ein Blondschopf aus dem Dorf. Er trug die Haare bis zum Kinn und die Leute ärgerten sich darüber, so sähe ein Junge nicht aus. Natürlich entging Astrid nicht Johannas Interesse an ihm und sie versicherte ihr, dass sie keine Chance hätte. Er wollte mit Claudia gehen. Wer wollte nicht mit Claudia gehen? Und im Gegensatz zu Johanna konnte Claudia küssen.
Sie dachte daran, wie Claudia alle Jungs nach ihrer Pfeife tanzen ließ und die sich das gefallen ließen. Neulich hatte sie diesem Rotschopf einen Kuss versprochen, wenn er sich in den Brennnesseln wälzen würde. Claudia stand da, wie es einer Prinzessin geziemte. Um sie herum ihre Hofschar. Prinzen mussten sich den Aufgaben stellen. Alle hielten den Atem an, als der Rotschopf in den Graben voller Brennnesseln sprang. Was für ein Dummkopf. Claudia besah sich den Trottel von oben bis unten und meinte angesichts seiner Rötungen auf der Haut, dass er viel zu hässlich wäre für einen Kuss von ihr. Der ganze Hofstaat hatte gelacht, auch Johanna.
„Aber du hast mich als Freundin“, riss Astrid sie aus ihren Gedanken. „Ich zeige dir wie das geht. Das müsstest selbst du kapieren.“ Astrid nahm ihre Hand und versetzte ihr einen Schmatzer. „So küssen Tanten und so“, es gab den nächsten Kuss, „Kleinkinder“. Dann gab es einen weiteren Kuss, „und so Verliebte“.
Igitt, Spucke war auf ihrer Hand. Johanna ließ sich nichts anmerken, sonst würde Astrid wieder nur die Augen verdrehen.
„So und jetzt küsst du mich auf den Mund, mal sehen wie du dich anstellst.“
Das war nicht ihr Ernst, oder doch? Es war. Blamieren wollte Johanna sich nicht. Wenn sie erst einmal gezeigt hätte, dass sie küssen kann, würde sie es sicherlich nie wieder tun müssen. Sie spitzte die Lippen und drückte sie gegen Astrids Mund.
„Du hast Null Chancen gegen Claudia“, versicherte ihr Astrid. „Sei nicht so verkrampft. Stell dir vor, meine Lippen wären Götterspeise, die du mit verbundenen Augen und Händen essen möchtest.“
Woher nahm Astrid diese Vergleiche? Götterspeise. Das war albern. Aber Johanna schloss die Augen und legte die Hände auf den Rücken. Sie würde es Astrid schon zeigen. Ihre Freundin trat näher an sie heran, fast berührten sich ihre Nasenspitzen. Johanna bewegte sich nicht, spürte Astrids Atem auf ihrem Gesicht, roch den Duft der Wiesenblumen zu ihren Füßen, fühlte die Sonnenstrahlen auf ihrem Haar. Sie wartete und während sie wartete, schien ihr Körper weicher und schwerer zu werden. Lippen berührten ihren Mund, weiche, warme Lippen öffneten sich. So konnte sich also küssen anfühlen? Astrid mag mich, dachte Johanna. Freude durchströmte sie und sie glaubte darin zu versinken, fast fühlte es sich wie ein Schmerz an. Kein Gedanke war mehr in ihr, kein Zögern, keine Scham.
Umso erschrockener und verwirrter war sie, als Astrid sie wegstieß, sich mit dem Arm über den Mund fuhr und sagte: „Das ist widerlich. Du sabberst wie ein Hund.“
Johanna glaubte, ihr Herz würde aussetzten. Ihr ganzes Blut schoss ihr ins Gesicht und schien zu verbrennen. Sie flüchtete nach Hause, rannte und rannte. Astrid rief ihr etwas hinterher, aber es rauschte an ihr vorbei.
Sie war für alle Zeit blamiert und wenn Astrid etwas erzählen würde, würde sie sterben. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie war nicht normal, das musste es sein. Kein normaler Mensch fühlt so etwas bei einem Kuss. Sie schwor sich, nie wieder zu küssen, als sie sich auf ihr Bett warf und in das Kissen Wasser und Rotz heulte. Es war, als würde sie unter Krämpfen leiden. Sie hatte keine Kontrolle darüber und konnte es nur geschehen lassen. Allmählich ebbten die Schluchzer ab und der Tränenstrom trocknete.
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