Stunden später waren die Fotoalben angeschaut, der Weinvorrat geschrumpft und die Kerze heruntergebrannt. Noch vor wenigen Minuten hatte Hannah herzlich über die alten Bilder gelacht, jetzt weinte sie.
»Ich will aus diesem verdammten Haus.« Durch ihr Schluchzen war sie kaum zu verstehen. »Wie lange dauert das noch?«
»Nicht mehr lange. Es kommt uns nur so vor, weil wir nichts tun können«, erwiderte Rainer. Um sie zu beruhigen, nahm er sie in den Arm und küsste sie. Plötzlich herrschte eine knisternde Intimität zwischen den beiden, wie seit Jahren nicht mehr.
Draußen brach ein weiterer Tag ihrer Isolation an, doch sie wussten es nicht. Die Zeit, die sie allein im dunklen Haus verbrachten, dehnte sich. Eine Minute fühlte sich wie Stunden an. Keine Änderung war in Sicht.
Mehr und mehr strapazierte Rainer Hannahs Nerven. Sie hatte nicht gewusst, dass er so laut atmete oder die Füße beim Gehen nicht richtig anhob, sondern mehr schlurfte als ging. Aber es war nicht nur das. Auch sein Geruch störte sie plötzlich, sogar seine Stimme. Jetzt saß er wenigstens in seinem Arbeitszimmer und belästigte sie nicht mit seiner Anwesenheit. Sie konnte ihn hören, wie er in alten Akten kramte und schimpfte.
»Hannah!«, brüllte er. Erschrocken über den plötzlichen Lärm, zuckte sie zusammen. »Schau mal auf deinem verfickten Handy, ob du irgendetwas Neues erfahren kannst!«
Als ob ich noch ausreichend Saft auf meinem Smartphone hätte. Aber sie probierte es trotzdem. Kein Strom, kein Internet, keine Nachrichten. Sosehr sie sich auch darum bemühte, das Telefon zu starten, das Display blieb schwarz.
»Der Akku ist leer«, erwiderte sie leiser.
Langsam wurde die Sache ungemütlich. Während der zahlreichen Corona-Lockdowns, damals war sie ein Kind gewesen, konnte sie auch nicht alles tun. Zu der Zeit durfte sie weder Kindergarten noch Freunde besuchen. Aber sie ging wenigstens mit ihrer Mutter spazieren und war vor allen Dingen nicht in einem abgedunkelten Haus eingesperrt. Sie hatten Fernsehen, Internet und konnten jederzeit mit anderen Leuten reden, zwar oft nur über den Balkon, aber immerhin.
Jetzt war jede Kommunikation nach außen weg. Ihr blieb nur Rainer. Diese Erkenntnis frustrierte sie.
»Du blöde Kuh!«, blaffte er sie zornig aus dem Arbeitszimmer heraus an.
Als ob ich etwas für die Umstände kann!
In ihren Gedanken kreisten verschiedene Krimis und Thriller, die sie in der Vergangenheit gelesen hatte. Sogar auf diese schöne Beschäftigung musste sie verzichten; es war zu dunkel dazu und Licht hatten sie keines mehr. Die Taschenlampe war im Auto, das vor dem Haus stand. Ihr war zum Heulen zumute.
Wie lange waren sie nun schon zusammen eingeschlossen? Hatte es jemals zu ihren Wünschen gehört, mit ihrem geliebten Rainer auf einer einsamen Insel oder wochenlang in einem Hotelzimmer eingesperrt zu sein? Zerknirscht gestand sie sich ein, dass das vor langer Zeit zu ihren schönsten Träumen gehört hatte. Natürlich war das der ersten Verliebtheit geschuldet gewesen. Rainer verhielt sich früher auch ganz anders, musste sie einräumen. Damals hatte er sie nie angebrüllt oder beschimpft. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, hörte sie seine angenehme Stimme, doch wurde sie vom älteren Rainer überlagert. Die Liebe hatte sich in der Dunkelheit aufgelöst. Oder es kam ihr erst jetzt so richtig zu Bewusstsein.
»Alter Besserwisser, du gehst mir so was von auf den Geist«, murmelte sie, während sie mit dem Fleischmesser das hart gewordene Brot bearbeitete. Mit der Nahrung sah es schlecht aus. Das Zeug aus der Tiefkühltruhe stank in einem Müllbeutel in der Küche vor sich hin. Sie wollte es nicht einmal mehr anfassen, so sehr ekelte sie sich davor. Dann hatte auch noch ein Riss im Beutel dafür gesorgt, dass der Dreck auf den Boden tropfte. Ihre schöne Küche wurde zum Horror. Der Kühlschrank war leer und roch eigenartig. Nudeln brachten nichts, wenn man sie nicht kochen konnte, das gleiche galt für Reis.
»So ein Scheiß auch!« Mit diesem Ausruf warf sie das Messer zornig von sich. Erst traf es das einbruchsichere Fensterglas und landete anschließend mit einem metallischen und lauten Klang auf dem Küchenboden. Danach kam ihr die Stille im Haus noch bedrohlicher vor. Die einzelne Kerze, die fast heruntergebrannt auf dem Esstisch stand, verbreitete ein unheimliches Licht.
War da etwas an der Tür? Ein Schaben, ein Kratzen oder gar ein Klopfen? Ihr Herz raste. Einen Moment setzte ihr Atem aus. Sie lauschte. Aber da war nichts mehr. Was wenn die Rettung schon wieder weg ist? So schnell es ging, rannte sie los und hielt erst an der massiven Haustür an.
»Hallo? Ist jemand da draußen? Können Sie mich hören?«, rief sie, gleichzeitig hämmerte sie mit den Fäusten dagegen. »Helfen Sie uns! Wir sind hier eingeschlossen!«
Die einzige Reaktion war Rainer, der angelaufen kam, sie grob an den Schultern packte und von der Tür wegriss.
»Hör auf, das hat keinen Zweck. Das Haus ist schalldicht isoliert, wir wollten es hier ruhig haben. Hast du das vergessen?«
Tränen traten ihr aus den Augen. Zornig riss sie sich von ihm los und hämmerte erneut gegen die Tür. »Lasst uns hier raus!«
Heftiges Schütteln brachte sie für einen Moment zur Besinnung. Fassungslos schaute sie ihren Mann an.
»Du Riesenarschloch! Tu doch endlich etwas, wo du sonst auch immer alles weißt!«, brüllte sie ihn an, dabei schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Tu was!«
Jetzt, wo es nötig ist, tut er gar nichts. Das ärgerte sie. Dazu kam ihre stärker werdende Angst.
Nachdem sie ihn geschlagen hatte, ging Rainer einfach weg. Er sagte nichts und tat nichts, sondern schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein.
»Anscheinend genießt du das noch!« Sie schickte ihm eine Reihe Schimpfnamen hinterher, ehe sie schluchzend an der Tür zu Boden rutschte.
Dieses Haus war eine Falle! Nichts anderes. Sie hörte Rainers Schritte. Mal ging er hierhin, mal dorthin. Irgendetwas murmelte er dabei vor sich hin. So sehr sie sich auch anstrengte, was er sagte, blieb ihr verborgen. Wie konnte sie seine tiefe, raue Stimme jemals anziehend finden? Es reichte schon zum Ausrasten, wenn er nur ihren Namen rief. Sie versteckte sich vor ihm, das war bei der Dunkelheit nicht allzu schwer. Rainer musste weg. Er war ein Problem.
Ihre Mutter hatte recht behalten, Rainer ging es nur ums Geld. Sie musste sparen und er protzte nach außen hin. Wenn es nur das wäre. Sie seufzte vernehmlich, biss danach die Zähne fest aufeinander, dabei zogen sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Nie wieder würde sie sich ungefragt die Welt erklären lassen! Das war das Schlimmste an ihrer Beziehung. Ich bin klug und brauche keinen Mann, der mir sagt, wo es langgeht. Diese Zeiten sind schon lang vorbei. Kapier das endlich, Rainer!
In ihrem vor Angst umnebelten Hirn keimte ein Plan. Erst waren es nur Mordgedanken, doch jetzt wurden sie konkreter. Rainer tat nichts, um ihr zu helfen. Er hatte sie geschüttelt, ihr wehgetan, nahm ihre Angst nicht ernst. Das musste Konsequenzen haben. Aber das brauchte Zeit. Wenn er nicht mehr war, hatte sie mehr Vorräte und vor allem gehörte dann alles ihr und sie konnte sagen, wo es langging.
Was tut er eigentlich die ganze Zeit in seinem Büro? , fragte sie sich. In ihr wuchs der Verdacht, dass er mit Licht gesegnet war und sie einfach im Dunkeln sitzen ließ. Am liebsten hätte sie sofort gehandelt, aber etwas bremste sie aus.
Ist das nicht wieder diese Stimme? Hannah lauschte. Aus dem Zimmer ihres Mannes drang ein Laut, der entfernt an die Sendersuche eines altertümlichen Radios erinnerte. Ihr Großvater hatte so eines besessen, aber das war lange her. Wieder rauschte es. Neugierig ging sie auf die Tür zu und presste ein Ohr gegen das Türblatt. Als sie die Stimme einer Frau hörte, riss sie die Tür auf und starrte in die Dunkelheit des kleinen Raums. Rainer hatte ein Radio und ihr nichts davon gesagt! Woher hat er es und vor allem die Scheißbatterien? Wo es vorher in ihr nur gekocht hatte, tat sich nun ein loderndes Flammenmeer auf.
Читать дальше