Zurück blieben wir Diener, Befehlsempfänger und Arbeiter. Einzig, um auf den Tod zu warten.
Ich taste nach der Bedienung des Mediasystems. Es streamen nicht mehr viele Sender, aber einige machen noch immer ihren Job, stellen sich quasi in den Dienst der Menschheit. Ein wenig erinnern sie an die Musiker auf der Titanic, die der Überlieferung nach bis zuletzt gespielt haben sollen.
Ich lade die nach meinen Interessengebieten, Regional-, Welt- und Fortschrittsberichten, vorsortierte Auswahl aktueller Nachrichten, welche mit jedem Tag weniger werden. Die Strukturen von einst sind noch immer vorhanden, digital wie real. Die Menschen nutzen sie nur anders, werden von lästiger Werbung verschont und müssen nirgendwo mehr Gebühren oder Freischaltungen zahlen. Nur zwei verfügbare Berichte stehen in meinem Angebot, die ich beide zum Abspielen auswähle.
»Ich grüße Sie«, beginnt eine Sprecherin mit trauriger Stimme. »Wir schreiben den fünfzehnten Mai 2050 und es bleiben uns nur noch wenige Tage. Also machen Sie das Schönste daraus. Tun Sie, was auch immer Sie jemals tun wollten.« Bilder von überfüllten Stränden werden eingeblendet. Überall auf der Welt sind Menschen auf der Suche nach Ausgleich und Vergnügen, solange es geht. Sie feiern, singen, liegen sich in den Armen, weinen oder trinken.
Seit Jahren das gleiche Bild. Niemand ist mehr daran interessiert, einen Konflikt herbeizurufen, sich zu bereichern oder langfristige Ziele zu verfolgen. Vergnügungsparks wurden von den Menschen übernommen und haben daher rund um die Uhr geöffnet. Berge werden bestiegen, Schiffe, Panzer oder Flugzeuge von einfachen Menschen ausprobiert. Aus dem Off setzte die Stimme der Sprecherin wieder ein. »Knapp fünf Jahre ist es inzwischen her, dass der Asteroid › Apocalyptica ‹ entdeckt und als Bedrohung erkannt wurde«, erinnert sie unnötigerweise an den Felsbrocken, der beinahe ein Viertel des Mondes misst, und einen direkten Kurs auf die Erde hält. Wie ein zweiter Erdtrabant wandert er über das Firmament und kündigt schweigend das nahende Ende an.
»Abermals verließen in der zurückliegenden Nacht einige der letzten verbliebenen Persönlichkeiten unsere Welt. Zwei private Raumshuttles wurden bei dem Versuch, der Arche nachzufliegen, aufgrund eines Antriebsfehlers zerstört.«
Bilder eines zerbrochenen und abstürzenden Schiffes dominieren den Bildschirm.
Die zweite Meldung enthält die Berichterstattung betreffend der Arbeiten am Projekt Orion, und die Erkenntnis, dass die Stadt am Grund des Ozeans nicht rechtzeitig fertig wird. Einige wenige Milliardäre unserer Welt, die, die sich schon immer sozial engagierten, weigerten sich damals, die Arche mitzufinanzieren und zu betreten. Stattdessen nutzten sie ihr Vermögen für das Orionprojekt, um so vielen Menschen wie möglich das Überleben zu sichern. Die Zeit war jedoch zu knapp, und ehrlich gesagt hätte es mich auch überrascht, wenn ein solches Vorhaben tatsächlich gelungen wäre.
Noch im Pyjama entriegele ich die Tür zum eigentlichen Keller meines Elternhauses. Von außen ist die Tür als solche nicht zu erkennen. Vater montierte einfach ein leeres Weinregal an die Außenseite; simpel und genial zugleich. Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich es cool finden, denn schon als Kind wollte ich genauso wie Batman ein Geheimversteck haben.
Ich nehme die Treppe in die erste Etage und spähe in den Wohnbereich, der in einem hellen Rotton erstrahlt. Dazu passend ist es spürbar warm hier oben, da die Sommersonne seit dem frühen Morgen auf das Haus niederschlägt. Rotbraune Vorhänge verdecken die Fenster, nicht wegen der Hitze, sondern um mich vor möglichen Augen und Sensoren zu verbergen.
Zähneputzen, waschen mit sonnengewärmtem Wasser und anschließend die Morgentoilette – in dieser Reihenfolge. Der nächste Fluss befindet sich einen halben Tag entfernt, daher sparen wir unser Wasser, wo immer es möglich ist. Mein nächstes Ziel ist die Küche im vorderen Bereich des Hauses. Bereits im Korridor höre ich Geschirr klappern.
»Salut«, begrüße ich André, meinen kleinen Bruder, der offenbar schon länger auf den Beinen ist. Gestern Abend versprach ich ihm, im Laufe des heutigen Tages endlich unsere aktuelle Serie abzuschließen. Es gibt noch so vieles, das er sehen sollte und nichts bedeutet mir mehr, als ihm sein viel zu kurzes Leben so angenehm wie nur möglich zu machen. Täglich muss ich still mit dem Gedanken kämpfen, dass er sein dreizehntes Lebensjahr nie erreichen und ihm alles Lebenswerte verwehrt bleiben wird. Niemals würde er sich verlieben oder jemanden ausführen können. Auch wird er nie alle Schönheiten dieser Welt kennenlernen und ebenso keine der Erfahrungen machen, die jeder Mensch einmal gemacht haben sollte. Es zerfrisst mich, wie es auch Mutter zerfressen hatte. Manchmal glaube ich, dass die tägliche Ablenkung aus Spaß und Abenteuer, die ich André biete, mir weit mehr hilft als ihm.
»Salut«, grüßt er mit einem Lächeln zurück und schiebt sich sein schulterlanges Haar hinter sein Ohr. Vor zwei Jahren sind wir das letzte Mal bei einem Friseur gewesen; Dienstleistungen dieser Art gibt es einfach nicht mehr.
Ich nehme meine Frühstückstasse und schaue ihn an. »Haben wir noch Kaffee?«
»Tee«, antwortet er und deutet auf eine kleine Plastikdose neben dem Wasserkocher.
»Besser als nichts.«
Dank der Solaranlage auf dem Dach und zwei Dutzend kleiner Kondensatoren hat unser Haus ausreichend Strom. Keine Ausnahme hier in der Region, weshalb es noch immer viele in die Provinzen ziehen lässt.
In den Städten ist die Energieversorgung deutlich schwieriger. Der größte Teil unserer weltlichen Infrastruktur funktioniert zwar noch immer, jedoch liegen die meisten Firmen, Hersteller und Versorger mangels Energie brach.
Es waren auch eher die ersten Jahre, die im Chaos versanken und von Panik beherrscht wurden. Heute sind die meisten Menschen entspannt, haben akzeptiert und resigniert. Dennoch, Hunderttausende wählten in den letzten Jahren den Freitod und mit jedem Tag, an dem sich der Asteroid nähert, häufen sich solche Vorfälle. Nochmal so viele bauten sich Bunker und legten Vorräte an.
Auch Vater wollte unter unserem Haus ein Loch ausheben, als den Menschen klar wurde, dass ein Einschlag unabwendbar war. Ich riet davon ab, denn es würde nur das unvermeidliche Ende hinauszögern und die wenigen Jahre, die blieben, verschwenden.
Stattdessen wollen wir Spaß haben, solange es geht.
»Salut«, grüßt nun auch mein Vater. Er ist ebenfalls noch im Pyjama. Seine Bartpflege hat er seit Monaten vernachlässigt, was ihn inzwischen wie einen Wilden aussehen lässt.
»Ich gehe heute noch in den Wald, etwas jagen. Kommst du mit?«
Die Frage gilt André. Ich darf das Haus natürlich unter keinen Umständen verlassen. Die Drohnen des Militärs würden mich binnen Minuten orten, aufspüren und in die längst verlassene Kaserne schaffen.
André schüttelt seinen Kopf. »Heute nicht.«
Auch ich spreche mich dagegen aus und erinnere daran, dass vom letzten Reh noch mehr als die Hälfte im Kühlschrank liegt. Unser alter Herr brummt nur, spart sich dieses Mal jedes weitere Wort über die angebliche, ihn so sehr traktierende, Langweile.
»Du kannst doch mitgucken«, bietet André an und entblößt seine übergroßen Schneidezähne. Vater aber wehrt sofort ab. »Nein, nein, da genieße ich lieber das gute Wetter.« Er greift nach dem selbstgebackenen Brot, schneidet sich ein großzügiges Stück ab und reicht mir den Rest.
Langsam schlurft er ins Wohnzimmer und aktiviert das dortige Mediasystem. Im Sammelmenü erscheint die Anmerkung der von mir bereits abgerufenen Inhalte. »Du hast die Nachrichten schon gesehen?«
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